Joie: Weißt du, Willa, kürzlich habe ich viel über Michaels unveröffentlichte Songs nachgedacht. Eigentlich ist das etwas, worüber ich sehr viel nachdenke. Und über diesen Tresor, der den Gerüchten zufolge existieren soll, mit Hunderten Songs in verschiedenen Stufen der Fertigstellung. Haut dich dieser Gedanke nicht einfach um? Dir vorzustellen, dass das wahr sein könnte?
Willa: Das tut es, und ich denke, es ist wahr. Joe Vogel hat Dutzende Interviews geführt mit Leuten, die an diesen Songs gearbeitet haben und offenbar gibt es eine faszinierende Vielfalt von Stilen und Genres – nicht nur die vielen unterschiedlichen Stile, die wir schon bisher aus Michael Jacksons Werk kennen, sondern auch einiges an Country, einige Schlaflieder, sogar ein Album mit klassischer Musik, die er komponiert hat.
Joie: Nun, wie du weißt, wurde kürzlich die Veröffentlichung eines neuen Albums mit dem Titel Xscape angekündigt. Und vermutlich wird es sich um völlig neue Musik handeln, die wir nie vorher gehört haben. Oder ich sollte besser sagen, Musik, die vorher nie auf einem echten Album veröffentlicht worden ist, denn einige von uns sind mit den Jahren ziemlich gut darin geworden, nach Songs zu greifen, die online durchgesickert sind. Da dieses neue Projekt also unter dem Namen Xscape herausgebracht wird, vermute ich, dass es eine echte Chance gibt, dass dieser Song auf dem Album sein wird.
Willa: Ja, ich habe gehört, er wird darauf sein. Eigentlich ist es so, dass wenn du das Zweier-CD-Set kaufst, es zwei Versionen geben wird: Die eine, die MJ mit Rodney Jerkins vor seinem Tod aufgenommen hat und eine, die von Jerkins „zeitgemäß aufbereitet“ wurde (contemporized).
Joie: Ich kann nicht anders, als mich zu fragen, welche die anderen Songs sind.
Willa: So geht’s mir auch. Ich habe nach einer offiziellen Track-List gesucht, aber bisher keine gefunden, obwohl ich mehrere inoffizielle gefunden habe. Ich stelle mir vor, dass sie eine offizielle bald veröffentlichen. Und es werden alle Songs auf Xscape zweimal enthalten sein, mit den „contemporized“ Versionen auf einer CD und dem Quellenmaterial, das Michael Jackson hinterlassen hat, auf der anderen. Ich war wirklich glücklich, das zu hören, besonders nach all den Kontroversen rund um das Album Michael. Im Grunde wünsche ich mir, sie würden eine Zweier-CD-Version von Michael herausgeben, die das Quellenmaterial auch für jene Songs beinhaltet. Das würde ich gerne hören!
Joie: Ich bin aufgeregt zu erfahren, was sie mit diesen neuen Veröffentlichungen gemacht haben, aber während ich an dieses bevorstehende Album denke, zwingt es mich meine Playlist unveröffentlichter Musik durchzugehen. Da sind so viele wunderbare Songs, denen vielleicht oder vielleicht auch nicht jemals eine ordentliche Veröffentlichung auf einem richtigen Album widerfahren wird. Aber es gibt auch einige, die schließlich doch bereits veröffentlicht wurden, wenn vielleicht auch nicht hier in den Vereinigten Staaten. Oder sie wurden als Teil einer Zusammenstellung wie The Ultimate Collection im Schuber herausgegeben.
Einer dieser Songs ist Someone Put Your Hand Out (Jemand reicht dir seine Hand). Und ich denke nicht, dass wir jemals vorher über diesen gesprochen haben, aber es ist ein betörend schöner Song, bei dem ich das Gefühl habe, Michael hat wirklich sein ganzes Herz hineingelegt.
Willa: Oh ja, das empfinde ich auch so. Dieser Song macht einen ganz intensiv persönlichen Eindruck auf mich. Ich fühle mich irgendwie schuldig dabei, ihn anzuhören – fast so als würde ich sein Tagebuch lesen oder etwas Ähnliches.
Joie: Ja, er fühlt sich unglaublich persönlich an, nicht wahr? Als würde er uns gegenüber seine Seele offenlegen. Die Lyrics sind sehr einfach, aber auch so intim, und du bekommst das Gefühl, dass er richtiggehend bettelt, wie er auch in dem Refrain sagt:
Someone put your hand out
I’m begging for your love
‘Cause all I do is hand out
A heart that needs your love
Jemand reicht dir seine Hand
Ich bettle um deine Liebe
Denn alles, was ich tue, ist
dir ein Herz zu geben, das deine Liebe braucht
Es ist so, als strecke er seine Hand aus nach jemandem, irgendjemandem, damit dieser ihn rettet. Und ich frage mich immer wieder, was es denn genau ist, vor dem er bewahrt oder gerettet werden will. Er sagt in der vierten Strophe „Rette mich jetzt von dem Weg, auf dem ich bin“ (Save me now from the path that I’m on). Was meint er damit? Wovor möchte er gerettet werden?
Wenn man sich den Song im Ganzen anhört, dann bekommt man den Eindruck, dass er sich auf die Einsamkeit bezieht. Wenn man aber bedenkt, wie er gestorben ist, dann lässt es einen fragen, ob er nicht noch über etwas anderes spricht. Natürlich, ich glaube fest daran, dass Einsamkeit ein hauptsächlicher Faktor war oder ein Grund für seine anderen Probleme.
Willa: Du hast recht, Joie – er scheint jemanden zu bitten, ihn zu lieben, aber auch ihn vor etwas zu retten / bewahren. Es ist nicht eindeutig, was das Problem ist, aber es scheint Einsamkeit und zusätzlich noch etwas anderes zu sein, wie du sagtest. Er sagt darüber ein wenig in der Strophe, die auf den Refrain folgt:
I’ve lived my life the lonely
A soul that cries of shame
With handicapped emotions
Save me now from what still remain
Ich habe mein Leben einsam gelebt
Eine Seele, die aus Scham weint
Mit gehandicapten Gefühlen
Rette mich jetzt und das, was nun noch übrig bleibt
Weißt du, es ist nicht klar, wer der Sprecher ist in diesem Song. Michael Jackson ist in seinen Songs oft in Rollen geschlüpft, er könnte also in der Rolle einer fiktiven Person heraus sprechen. Weil sich dieser Song so persönlich anfühlt, ist man versucht anzunehmen, es wäre Michael Jackson selbst, was wir vielleicht nicht tun sollten. Wenn er aber seine wahren Gefühle ausdrückt in diesem Song, dann ist diese Strophe wirklich verwirrend für mich. Glaubte er wirklich, er habe „gehandicapte Gefühle“? Hatte er deswegen wirklich „Schamgefühle“ – weil er dachte, er könnte Emotionen nicht spüren oder ausdrücken auf die Art, wie er es sollte? Bittet er jemanden, ihn nicht nur zu lieben, sondern ihm beizubringen, wie man liebt?
Joie: Wow, Willa, das ist tiefgründig – ihm beizubringen, wie man liebt. Das ist mir nie in den Sinn gekommen, aber du könntest richtig liegen. Ich glaube, er fühlte sich wahrscheinlich so, als hätte er „gehandicapte Gefühle“.
Willa: Wirklich? Denn ich habe das niemals vorher in Erwägung gezogen. Ich meine, es gab eine ganze Menge Leute, die nach den Anschuldigungen 1993 verletzende Kommentare gemacht haben, als sie sagten, er sei ein zurückgebliebener Zwölfjähriger – was bedeutete, sie hätten das Gefühl, er könne keine richtige Beziehung zu Erwachsenen haben, da er sich psychisch nie über das Level eines 12-Jährigen hinaus entwickelt habe. Und ich habe dem immer entschieden, sehr entschieden widersprochen. Ich meine, sieh dir nur die psychologische Komplexität seiner Werke und ihre emotionale Reichhaltigkeit an. Das ist nicht die Arbeit eines zwölfjährigen. Vielmehr würde ich sagen, sein Werk enthüllt eine selten dagewesene Empfindsamkeit und Reife.
Ich habe also niemals den Gedanken der „gehandicapten Emotionen“ akzeptiert, und ich hätte mir niemals träumen lassen, er könnte auf diese Art über sich selbst denken. Obgleich er in einer Rolle und nicht als er selbst sprechen könnte, als er dies sagt.
Aber weißt du, es scheint mir so, dass fast jeder, den er getroffen hat, diese Sehnsucht bei ihm bestätigt gesehen hat – oder noch mehr als das, dass es sich wirklich in ihm ereignet hat. Es ist so, als hätten sie gewollt, die Leere in ihrem eigenen Leben auszufüllen. Überall, wo er hinging, waren diese greifenden Hände, die nicht nur sein Geld wollten, sondern ihn selbst. Und er konnte ihnen nicht all ihre Wünsche erfüllen – er konnte sich nicht selbst für Millionen verschiedener Leute aufteilen. Und ich frage mich, ob das ein Teil davon ist – ob er sich irgendwie unzureichend fühlte, weil er nicht in der Lage war, die emotionalen Forderungen, die jeder, den er traf, ihm gegenüber hatte, zu erfüllen.
Joie: Vielleicht fühlte er sich unfähig, seine wahren Gefühle auszudrücken, wenn sie nicht in einen Song verpackt waren. Irgendwie verrückt, darüber nachzudenken, nicht wahr?
Willa: Ja, aber es ergibt einen Sinn. Eigentlich deutet er das in diesen Lyrics an:
I’ll be your story hero
A serenading rhyme
I’m just needing that someone
Save me now from the path I’m on
Ich bin der Held deiner Geschichten
Der dir ein sich reimendes Ständchen bringt
Ich brauche einfach diesen Jemand
Rette mich jetzt von dem Weg, auf dem ich mich befinde
Es ist fast so, als würde er sagen, dass wenn er ein romantisches Erlebnis hat, er nur eine Rolle spielen würde – eine Rolle, die er jahrelang auf der Bühne verkörpert hat: „Ich bin der Held deiner Geschichten / Der dir ein sich reimendes Ständchen bringt.“ Und er bittet jemanden, ihn davor zu bewahren, einfach nur diese Rolle zu spielen und ihm zu erlauben, es tatsächlich zu fühlen.
Weißt du, da geht eine Art Distanzierung vor sich, wenn du deine Erfahrungen in deiner Kunst in eine vergeistigte Form überführst. Ich habe gehört, wie Fotografen darüber gesprochen haben. Wenn du Fotograf bist und dich plötzlich in einer Situation von tiefgreifender kultureller Tragweite wiederfindest, was tust du dann? Solltest du dich emotional davon distanzieren und es mit dem Auge eines Fotografen betrachten, um es dokumentarisch festzuhalten? Oder solltest du die Kamera weglegen und es erleben? Ich kann erkennen, wie Michael Jackson diesem Dilemma ebenfalls gegenüberstand, denn so vieles in seinen Werken stammt aus seinen eigenen Erfahrungen – wie dieser Song zum Beispiel. Es fühlt sich intensiv persönlich an, wie du schon zuvor gesagt hast.
Joie: Ich denke, ich weiß, was du meinst, Willa. Du fragst dich, ob er sich vielleicht jemals die Frage gestellt hat – soll ich diese tiefgreifend persönliche Lebenserfahrung „dokumentieren“ oder soll ich es einfach erleben und verarbeiten und für mich behalten?
Willa: Ja, genau das meine ich.
Joie: Das ist eine interessante Frage.
Willa: Ja, das ist es. Du weißt ja, Lord Byron, der romanische Dichter, wurde in den Kerker von Schloss Chillon in der Schweiz geworfen worden, weil er eine Liebesbeziehung mit einem Mann aus einer niedrigeren sozialen Klasse als seiner eigenen hatte – und der Klassenunterschied war ein bedeutender Teil dessen, warum er eingesperrt wurde. Die unteren Klassen wurden als weniger gesellschaftsfähig und als argloser angesehen als die obere Klasse, eine homosexuelle Beziehung mit einem Mann der Unterklasse war damals also sehr verstörend – in etwa so, wie wenn man heute einen störenden Einfluss auf Minderjährige ausübt.
Jedenfalls bin ich sicher, dass das Eingesperrtsein in einem Kerker ziemlich unbequem war, aber Byron bediente sich seiner Erfahrungen für ein Gedicht mit dem Titel The Prisoner of Chillon (Der Gefangene von Chillon), und mich beschleicht das Gefühl, dass er vielleicht dachte, dass es ziemlich romantisch für einen Dichter sei, in einem Kerker eingesperrt zu sein. Sehr gothisch. Er ritzte sogar seinen Namen in eine der Säulen, um seinen Aufenthalt zu verewigen. Ich habe den Ort einmal besucht und sah es. Statt also seine Gefangenschaft einfach als harten Umstand zu sehen, denke ich, er sah es als gutes Hintergrundmaterial für seine Dichtkunst.
Ich bin also ein wenig umher gestreift, was ich aber zu sagen versuche, ist, dass, wenn du deine Erfahrungen im Leben als Quellenmaterial für deine Kunst nutzt, dies tatsächlich die Sichtweise auf deine Erfahrungen verändern kann, denke ich.
Joie: Ich stimme dir zu, und ich glaube, dass wahrscheinlich die meisten Künstler öfter, als wir wissen, auf die Erfahrungen ihres persönlichen Lebens zurückgreifen.
Aber um noch mal auf den Song zurückzukommen, du weißt ja, es ist nicht viel bekannt darüber, was ihn inspiriert hat oder wie er geschrieben wurde, außer, dass er ursprünglich für das Bad Album entstand und dann für das Dangerous Album überarbeitet wurde. Er verpasste es, auf das eine und auf das andere zu gelangen, aber er wurde schließlich im Mai 1992 in UK / Europa als Pepsi-Exklusiv-Kassette veröffentlicht, einzig um die Dangerous Tour zu bewerben. Sie war unter anderem der Inhalt in einem Promotionpaket gemeinsam mit einem Poster, einem riesigen Sticker und einer Pressemappe über die Tour. Es wurde außerdem in Japan als CD Single veröffentlicht.
Jahre später wurde es endlich ordentlich in den Vereinigten Staaten veröffentlicht, als es 2004 zum Inhalt der The Ultimate Collection gehörte. Und gemäß dem Buch Michael Jackson: For the Record von Chris Cadman und Craig Halstead wurde es von Ludacris auf dem Track One More Drink auf seinem Album Theater of the Mind gesampelt.
Willa: Das ist interessant, Joie. Ich wusste, dass es in der engeren Auswahl für Dangerous war und dann weggelassen wurde, aber ich wusste nicht, dass es ursprünglich für Bad geschrieben wurde. Er war also noch ziemlich jung, als er es schrieb … Ich frage mich, ob seine Gefühle sich geändert haben, als er älter wurde?
Weißt du, eine Sache, die mich an diesem Song umhaut, ist, dass das Intro mit einer tiefen Stimme gesprochen wird – ruhig, aber tief, viel tiefer, als wir seine Stimme zu hören gewohnt waren – aber dann wird der Rest in einer hohen Stimmlage gesungen, die viele Leute Falsetto nennen würden. Das ist sehr ungewöhnlich. Typisch war für ihn, dass er Parts in hohen Stimmlagen als Akzente einsetzte oder um an einem gewissen Punkt der Geschichte eine bestimmte Emotion zu erzeugen. Ich denke speziell an das hohe Zwischenspiel in Smooth Criminal – den Part „I don’t know … I don’t know … I don’t know why“, den ich so liebe. Aber hier wird der gesamte Song in einer höheren Stimmlage gesungen. Aus dem Stegreif fällt mir kein weiterer Song ein, in dem er das macht.
Ich habe vor nicht langer Zeit einen interessanten Artikel gelesen, der dies vielleicht erklären könnte – warum er hier seine hohe Stimme so extensiv einsetzt. Der Artikel heißt Die widersinnige Wahrheit der Falsetto-Stimme: Sigur Rós zuhören von Edward D. Miller (The Nonsensical Truth of the Falsetto Voice: Listening to Sigur Rós), und er macht eine ganze Menge faszinierende Feststellungen. Er sagt etwa, dass „Soul/Funk-Sänger wie Marvin Gaye, Al Green und Curtis Mayfield in Falsetto sangen und dadurch Liebesgefühle, Sehnsucht, sexuelles Verlangen und politische Unzufriedenheit ausdrückten“. Er sagt weiter, dass männliche Soul- und R&B-Sänger sowie „virile“ (sehr männlich auftretende) Rocksänger wie Mick Jagger und Robert Plant dazu neigten, Falsetto einzusetzen, besonders, wenn sie ein Gefühl der „Sehnsucht“ oder „einer dramatischen Zärtlichkeit“ oder „Momente großer Leidenschaft“ ausdrücken wollten.
Wenn das stimmt, dann ergibt es einen Sinn, dass in einem Song, in dem der Hauptcharakter eine intensive „Sehnsucht“ nach jemandem, den er lieben kann, ausdrückt, Michael Jackson im Falsetto singt.
Joie: Hmm. Das ist interessant, nicht wahr?
Willa: Ist es. Es stellt sich mir dadurch auch die Frage nach dem Kontrast zwischen seiner ungewöhnlich tief gesprochenen Stimme im Intro und seiner hohen Singstimme im ganzen Rest des Songs. Ich frage mich, ob dies auf einer bestimmten Ebene einen Kontrast zwischen seinem Innenleben und seinem nach außen gelebten Leben andeutet.
Was ich meine, ist, dass wir im Intro seine alltägliche Welt hören – sein gesprochenes Leben – und er spricht mit einer normalen Stimme und scheint zufrieden. (Und klingt unglaublich heiß, möchte ich hinzufügen … Yow.) Aber dann betreten wir seine innere Welt – sein gesungenes Leben – und da ist diese drängende Stimme, die unerfülltes Verlangen ausdrückt, eine Sehnsucht zu lieben und geliebt zu werden. Es könnte also sein, dass dieser Gegensatz zwischen seiner tiefen gesprochenen Stimme und seiner hohen singenden Stimme ein Missverhältnis zwischen dem, wie er sich innerlich fühlt und wie er gegenüber anderen erscheint, ausdrückt. Wie er es auch in den Eröffnungszeilen singt: „Ich lebe dieses Leben, in dem ich etwas vortäusche / Ich kann diesen Schmerz tief drinnen aushalten“.
Joie: Das ergibt tatsächlich sehr viel Sinn, Willa. Besonders, da von vielen ihm nahestehenden Personen berichtet wurde, dass seine natürliche, alltägliche Sprechstimme mindestens ein oder zwei Oktaven tiefer war als die ganze Welt dachte.
Willa: Das ist interessant, Joie, besonders weil viele Kritiker – speziell männliche Kritiker – ihn wegen seiner öffentlich bekannten Sprechstimme verspottet haben. Miller deutet gewissermaßen auch einen Grund hierfür an. In seinem Artikel stellt er fest, dass es nichts „Falsches“ (false) am Falsetto gebe. Er glaubt, die Vorstellung, dass es sich nicht um eine authentische männliche Stimme handeln würde, würde von der kulturellen Auffassung über Geschlechteridentität herrühren, habe aber keinerlei biologische Grundlage in Bezug auf das männliche Stimmband. Er sagt in seinem Artikel:
… wenn der Mann diese Stimmlage einsetzt, bringt er die Grenzen zwischen den Geschlechtern durcheinander. Er verschafft sich Eintritt in Tonarten, die normalerweise Frauen zugeordnet werden und ahmt den Frauen zugeschriebenen Bereich nach. Aber der Falsettist ist nicht authentisch weiblich. Es ist eine Form der Verkleidung: eine stimmliche Maskerade. Auf diese Art hinterfragt die Falsetto-Stimme die Authentizität der Geschlechtern zugeschriebenen Stimmen. Wenn Stimmen so strikt bestimmten Körpern zugeordnet werden, dann übertritt das Falsetto die Grenzen zwischen den Geschlechtern – es bewegt sich zwischen den Einheiten des Männlichen und des Weiblichen hin und her.
Ich denke, dies könnte bei der Erklärung helfen, warum sich speziell männliche Kritiker gegenüber Michael Jackson unwohl fühlen – dass es nicht nur seine äußere Erscheinung war, die Grenzen überschritt, sondern ebenso seine Stimme.
Aber dann unterwandert Miller dies mit einer sehr seltsamen Fußnote:
Man ist moralisch verpflichtet, dahin zu gelangen, Michael Jackson anzuerkennen. Er setzt seine Falsetto-Stimmlage virtuos auf oft hicksende Art und Weise (Hiccups) ein, und ja, er scheint wirklich ziemlich bizarr zu sein – sicherlich aus komplizierten Gründen, die Mainstream-Medien suchen jeden Tag nach Möglichkeiten, seine rassische / sexuelle Seltsamkeit darzustellen und sicherzustellen, dass sein Ansehen ebenso monsterartig ist wie seine Rolle im Thriller-Video.
Ich weiß nicht genau, wie ich dies deuten soll. Es ist Millers einzige Fußnote und das einzige Mal, dass er Michael Jackson erwähnt, und es scheint hier wirklich deplatziert – besonders in einem akademischen Artikel. Es ist fast so, als würde Miller diejenigen kritisieren, die sich generell mit Falsetto-Stimmen unwohl fühlen, indem er feststellt, sie seien Opfer einer kulturellen Voreingenommenheit, aber dann fügt er diese Fußnote hinzu, die vermuten lässt, dass er selbst ein gewisses Unbehagen gegenüber Michael Jackson verspürt, den er als jemanden anerkennt, der „seine Falsetto-Stimmlage virtuos einsetzt“. Ich weiß nicht ganz, was ich damit anfangen soll, obwohl ich denke, seine Bemerkung über die Medien ist ziemlich aufschlussreich – besonders, da dieser Artikel 2003 veröffentlicht wurde, bevor Michael Jackson starb und bevor die öffentliche Haltung ihm gegenüber begann weicher zu werden und sich zu verändern.
Joie: Nun, das ist seltsam. Aber wenn ich das erste Zitat lese, ist das Einzige, was mir in den Sinn kommt, warum das solch eine große Sache ist? Warum ist das seltsam oder warum ist „das Durcheinanderbringen von Geschlechterzuordnungen“ für einen männlichen Sänger seltsam, wenn er damit seine gesamte stimmliche Bandbreite ausnutzt? Warum soll das ein Fall des „sich Eintritt Verschaffens in Tonarten, die normalerweise Frauen zugeordnet sind“ sein? Besonders, da so viele männliche Sänger so oft das Falsetto einsetzen. Man sollte denken, es würde nicht länger angesehen werden als „Nachahmung eines Frauen zugeschriebenen Bereiches“, sondern einfach als Teil der natürlichen männlichen Stimmbandbreite. Weißt du, manchmal glaube ich wirklich, dass einige Leute zu viel über Dinge nachdenken. Verstehst du, was ich meine?
Willa: Ha! Das ist lustig, Joie. Du hast recht, Akademiker neigen dazu, viel über Dinge nachzudenken und vielleicht zu viel in die Dinge hineinzulesen. Aber abgesehen von dieser unglücklichen Fußnote, glaube ich, dass Miller wirklich einer Sache auf der Spur ist, wenn er über die geschlechterspezifische Abgrenzung von Stimmen spricht – und er meint das auf eine umfassende Art, die all die Dinge einbezieht, die uns beigebracht wurden darüber, was es bedeutet, maskulin oder feminin zu sein. Er sagt:
In den meisten kulturellen Auffassungen über Stimmen bedeuten hohe Noten Leidenschaft und rufen Drama und Begeisterung beim Zuhörer hervor. Die Falsetto-Stimme ahmt nicht etwa eine weibliche Stimme nach, sondern sie räumt den männlichen Sängern eine Ausdrucksfähigkeit ein, die ihnen erlaubt, gegenüber dem Zuhörer einen Rausch genau dieser Emotionen zu vermitteln. Wenn dies die Geschlechternormen durcheinanderbringt, dann deshalb, weil dem Mann beigebracht wurde sich zu zügeln. Folglich muss er über seine „reale“ Stimme hin zur „falschen“ (false) hinausgehen, um wirkliche Emotionen auszudrücken.
Ich war hiervon wirklich fasziniert. Wenn ich dies korrekt interpretiere, dann kann diese hohe Stimme, die Michael Jackson so wunderbar einsetzt, um intensive Gefühle hervorzurufen, nicht nur als feminin gesehen werden, weil sie so hoch ist, sondern eben, weil sie so emotional ist, und weil wir als eine Kultur uns unwohl fühlen, mit emotionalen Männern. Miller drückt es so aus „Dem Mann wurde beigebracht sich zu zügeln“.
Dies versetzt Männer in eine Zwickmühle, denn eines der vorrangigen Ziele des Singens ist der Ausdruck von Emotionen. Aber um das zu tun, müssen sie in den Bereich des Femininen eintreten – in das, was wir fälschlicherweise feminin nennen – sowohl stimmlich als auch emotional.
Und das erinnert mich wiederum an die Zeile aus Someone Put Your Hand Out über „gehandicapte Gefühle“ („handicapped emotions“). Welche Ironie, dass Michael Jackson vielleicht ein Schamgefühl empfand, weil er dachte, er wäre nicht emotional genug oder zu vollkommenen Gefühlen nicht imstande, wo er doch eigentlich als jemand wahrgenommen – und dafür kritisiert – wurde, zu emotional zu sein. Oder dass er vielleicht gedacht haben mag, er könne seine Gefühle nicht vollkommen genug ausdrücken, wo doch nur einige wenige Leute ihre Emotionen nur halb so gut ausdrücken konnten wie er.
Joie: Das ist interessant. Aber es ist vergleichbar damit, wenn du Künstler hörst – und Michael war einer von ihnen – die sagen, dass sie äußerst introvertiert sind, besonders in Eins-zu-Eins-Situationen, und doch fühlen sie sich vollkommen wohl auf eine Bühne vor ein Millionenpublikum zu treten. Er drückte eine Fülle von Emotionen so frei und so gut aus, wenn sie in einen Song verpackt waren oder in ein Video oder wenn er auf der Bühne stand. Aber dieser extrem persönliche Song erzählt uns, dass er fühlt, seine Emotionen wären „behindert“. Es ist ein interessantes Paradoxon.
Willa: Das ist es, Joie, ich glaube, du hast deinen Finger auf etwas sehr Wichtiges gelegt. Es ist so, wie er in Moonwalk sagt: „Die Dinge, die ich mit Millionen von Menschen teile, sind nicht die Art Dinge, die man mit einer einzelnen Person teilt.“
Joie: Weißt du, Willa … du hältst mich jetzt wegen dem, was ich jetzt sagen will, vielleicht für verrückt, aber dieser Song erinnert mich ziemlich stark an einen anderen, zutiefst persönlichen Michael Jackson Song – Stranger in Moscow. Über ihnen liegt eine ähnliche Stimmung und sie erwecken ein ähnliches Gefühl in mir. Ich meine, denk mal an den Refrain der beiden Songs:
Someone put your hand out
I’m begging for your love
‘Cause all I do is hand out
A heart that needs your love
Jemand streckt dir seine Hand entgegen
Ich bettle um deine Liebe
Denn alles, was ich tue, ist
dir ein Herz zu geben, das deine Liebe braucht
und dann
How does it feel (How does it feel)
How does it feel
How does it feel
When you’re alone
And you’re cold inside
Wie fühlt es sich an (Wie fühlt es sich an)
Wie fühlt es sich an
Wie fühlt es sich an
Wenn du allein bist
Und du bist innerlich kalt
Für mich handeln diese beiden Songs von derselben Sache. Sie deuten beide an, dass er sich fast gefangen fühlt von diesem erdrückenden Gefühl des „Alleinseins“, wenn das einen Sinn ergibt. Sie sind beide so verzweifelt, verstehst du, was ich meine?
Willa: Wow, Joie, das ist interessant, denn diese Songs erscheinen für mich sehr unterschiedlich. Hmmm … Ich werde darüber erst mal nachdenken … Ich erkenne, was du sagen willst, dass sie beide von Isolation und Einsamkeit handeln, aber warum fühlen sie sich für mich so verschieden an?
Ich frage mich, ob das zurückgeht auf den Gedanken des Öffentlichen und des Privaten, über das wir zuvor schon gesprochen haben. Für mich handelt Someone Put Your Hand Out von seinem Privatleben, und wie gerne er jemanden hätte, der sein inneres Leben mit ihm teilt. Aber in meinen Augen handelt Stranger in Moscow von etwas, das ein klein wenig anders ist – über seinen „rasanten und plötzlichen Absturz“ („swift and sudden fall from grace“) und wie es sich anfühlt, ein sozial Geächteter zu sein.
Aber das ist nicht ganz richtig, denn Stranger in Moscow fragt uns dann, uns vorzustellen „wie es sich anfühlt“, in dieser Situation zu sein, ein sozial Ausgestoßener zu sein. Wie du schon den Refrain zitiert hast „How does it feel / When you’re alone / And you’re cold inside?” Er vermischt also das Öffentliche und das Private und fordert uns auf, uns vorzustellen, wie sein Privatleben war, nachdem sein öffentliches Leben ruiniert war. Also yeah, Joie, ich denke, ich erkenne, was du sagen willst. Das ist wirklich interessant. Ich denke nicht, dass ich diese beiden von selbst miteinander in Verbindung gebracht hätte.
Joie: Ich weiß nicht, ob ich es getan hätte, wenn ich nicht darüber nachgedacht hätte, welches Gefühl der Song in mir auslöst, aber es ist ein interessanter Vergleich, finde ich. Und es bringt mir deine vorherige Frage in Erinnerung, als du sagtest, dass du dich fragen würdest, ob sich seine Gefühle geändert hätten, als er älter wurde. Ich weiß, es waren andere und ziemlich ernste Umstände zu der Zeit, als er Stranger in Moscow schrieb, aber nur vom Gefühl der zwei Songs würde ich sagen, die Antwort auf diese Frage war Nein.
Willa: Nun, du hast recht, Joie – seine Umstände änderten sich sehr. Ich meine, wenn er sich in den 80ern, als er Someone Put Your Hand Out geschrieben hat, einsam fühlte, stell dir vor, wie er sich in den 90ern fühlte, nach dem der Skandal ausbrach. Also, ich bin sicher, dass seine Gefühle der Einsamkeit auf gewisse Art eigentlich noch intensiver wurden.
Aber weißt du was, auf andere Art schienen die Skandale ihn auch sehr viel stärker zu machen, sogar entschlossener und seiner selbst sicher. Ich frage mich also, ob er gegen Ende seines Lebens immer noch von der „Schmach“ der „gehandicapten Gefühle“ sprechen würde. Von seinen Werken ausgehend denke ich es nicht, aber es ist schwer zu sagen. Und es ist schwer zu wissen, ob er wirklich von sich selbst sprach in Someone Put Your Hand Out oder ob er in einer Rolle sprach. Und es ist schwer zu wissen, wie viel den spezifischen Umständen, in denen er sich befand, zugeschrieben werden konnte.
Joie: Das ist sehr wahr. Aber was immer ihn auch antrieb, diesen unglaublich schönen, intensiv persönlichen Song zu schreiben, ich bin dankbar, dass er sich entschieden hat, ihn mit der Welt zu teilen, denn er ist immer einer meiner Lieblingssongs gewesen.
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