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“A lot of people misunderstand me. That’s because they don’t know me at all.” – Michael Jackson


Raven Woods plante, ein Buch über HIStory für die Bloomsbury 33 1/3 Serie zu schreiben. Leider konnte dieses Projekt nicht realisiert werden, da sich Bloomsbury nicht für ihr Konzept entschied (möglicherweise war der zeitliche Abstand zu Susan Fasts Band über Dangerous einfach zu kurz). Allerdings entschied sich Raven dazu, das von ihr ausgearbeitete Konzept in ein eigenständiges Essay umzuschreiben und zu veröffentlichen.


Im Sommer 1995 veröffentlichte Michael Jackson seinen sehnlich erwarteten Nachfolger zu Dangerous, ein Album mit dem pompösen Titel HIStory: Past, Present and Future, weiter unterteilt in Books I, II und III. Das Wortspiel im Albumtitel war vollkommen bewusst. Eines ist klar: das war HIS story (SEINE Geschichte), wie nur er selbst sie erzählen konnte. HIStory wurde Jacksons persönlichstes und kontroversiellstes Album, eine rohe und phasenweise knallhart ehrliche musikalische Odyssee durch seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die erste Single „Scream“ war als Urschrei gedacht. „Stop fucking with me! (Hört auf, mich zu verarschen!) speit Jackson aus, sein erster Fluch auf einer Platte erschallt wie eine dumpfe Gewehrkugel, ein Schuss aus purem, angestautem Adrenalin, Wut und Frustration. Ob Fans und Kritiker es letztlich begeistert annehmen oder verachten, eines war sicher: Das war ein Schrei, der nicht ignoriert werden würde.

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Wenn Dangerous Jacksons Album des „Erwachsenwerdens“ war, wie Susan Fast in ihrem Bloomsbury 33 1/3 Band Michael Jacksons Dangerous konstatierte, dann war HIStory der nächste logische Schritt entlang dieses Kontinuums – ein dunkles und angstgetriebenes Album, das Jackson in der Reife kompletten Erwachsenseins präsentiert, aber wohl auch ein Album, das seinen künstlerischen Höhepunkt markiert; mit Sicherheit seinen künstlerischen Höhepunkt als Songschreiber.

Das ist eine Feststellung, welche jenen, die an die bedenkliche Schilderung geglaubt haben, dass Michael Jacksons künstlerischer Höhepunkt mit Off the Wall, Thriller und Bad erreicht war, befremdlich erscheinen dürfte. Indem ich mich dazu entschieden habe, mich auf HIStory: Past, Present and Future zu konzentrieren, schließe ich mich einem rasch wechselnden Paradigma von Kritikern und Experten an, die Michael Jacksons Schaffen der 90er-Jahre und darüber hinaus nun grundlegend überdenken. Jedes Album aus Jacksons Solokarriere als Erwachsener reflektierte seine beständige Entwicklung und Steigerung als Songschreiber: von Off the Wall, wo er drei der zehn Titel geschrieben hatte (einschließlich der gewaltigen Single „Don’t Stop Til You Get Enough“, mit der ihm der Durchbruch gelang), über Thriller, für das er vier Titel verfasst und co-produziert hatte (inklusive der beiden größten Hits des Albums, „Billie Jean“ und „Beat It“), über Bad, wo er neun der elf Albumtitel verfasst hatte, hin zu Dangerous und HIStory, für die er jeden Titel entweder selbst geschrieben oder mitgeschrieben hat (mit Ausnahme weniger Covers) und einige davon produziert hat.

Viel zu lange wurde Jacksons ausgereiftes Schaffen der 90er- und 2000er-Jahre jedoch weitestgehend unterschätzt, bestritten oder auf zynische Weise pauschal abgetan – „paranoid“, „weinerlich“, „egoistisch“ und „narzisstisch“ sind nur einige der gängigsten Beschreibungen. Die Allmusic Rezension von Stephen Thomas Erlewine, in der es heißt, dass HIStory zwar Jacksons „bislang persönlichstes Album“ war, allerdings auch „eine gewaltige Vollendung von Jacksons Ego“1, war nur allzu charakteristisch. James Hunter vom „Rolling Stone“ verlieh ihm vier von fünf Sternen, machte allerdings klar, dass die Bewertung in erster Linie eine Reflexion auf das Book I des Albums (eine Greatest Hits Sammlung) war, und sich nicht auf das neue Material von Book II bezog. Während er anerkannte, dass das Album auf ehrliche Art und Weise Jacksons „schockierte Reaktion auf alles war, was ihm im vergangenen Jahr begegnet ist“, fährt Hunter im gleichen Atemzug fort, dieses Material als „ein sonderbares, reizloses zweites Kapitel“ zu bezeichnen.2 Solche Kritiken, die so typisch sind, werfen jedoch viele interessante Fragen über die bedenkliche Wahrnehmung schwarzer Künstler im Allgemeinen und Michael Jackson im Speziellen auf. Weiße Künstler (ob wir sie nun Singer-Songwriter, Avantgarde, Grunge oder wie auch immer nennen) haben seit Jahren persönliche, angstgetriebene Alben veröffentlicht und dafür meist viel Kritikerlob erhalten. Daraus ist schließlich „ernsthafte“ Kunst gemacht – während Funk, R&B und Dance-Grooves (die Genres, die meist mit schwarzen Künstlern assoziiert werden) oft als ursprüngliche Musik verbannt werden, die beabsichtigt, den Körper in Bewegung zu bringen, nicht aber das Gehirn zu beschäftigen. Jackson hat sich schon früh zu einem Songschreiber entwickelt, der nicht nur imstande war, geniale Dance-Grooves wie „Billie Jean“ zu schreiben, sondern der darüber hinaus auch dazu fähig war, selbst seine größten Tanznummern mit einer dunklen Vision zu durchtränken, was ihn von anderen unterschied. „Billie Jean“ war letzten Endes eine ziemlich düstere Geschichte über die Folgen von Sex und Sünde. Aber beginnend mit Dangerous (1991), wo er sich offiziell von der Vormundschaft Quincy Jones’ lossagte und gipfelnd mit HIStory (1995) schien er einen bestimmten Kurs voranzutreiben, um nicht mehr länger lediglich der „Lied und Tanz Mann“ der Industrie zu sein. Diese beiden Alben repräsentieren Jacksons Äquivalent zu dem Control Album seiner jüngeren Schwester Janet, wo er den Gedanken daran feiert, jetzt selbst am Steuer zu sitzen und die Verantwortung für sein eigenes Schicksal in der Hand zu haben. Er hat sich selbst nicht nur, wie Fast es ausdrückt, von der langen Reihe an „Vaterfiguren“ emanzipiert, die bis dahin einiges in seinem Leben und Schaffen dominiert hatten (von Joe Jackson über Berry Gordy bis Quincy Jones)3, sondern er hat sich selbst auch persönlich emanzipiert, als er sich vom Glauben der Zeugen Jehovas trennte, dem er seit seiner Kindheit gefolgt war. Ohne diese künstlerischen und persönlichen Einschränkungen, die zuvor vielen seiner kreativen Ideen hinderlich waren, war er nun frei, seine künstlerische Vision in jede beliebige Richtung zu lenken. Er hatte auch den Luxus an Zeit und Geld, um im Studio zu tun, was auch immer ihm verdammt noch mal gefiel. Obwohl jeder Michael Jackson Titel das Ergebnis erheblicher gemeinschaftlicher Arbeit zwischen Jackson, seinen Produzenten, Co-Autoren, Musikern und Technikern war (wie es jedes Album sein muss), gab es nie auch nur den geringsten Zweifel daran, wer die völlige Kontrolle über den Prozess hatte. Der Himmel, wie es so schön heißt, war die sprichwörtliche Grenze.

HIStory führt auf entscheidende Art die gleichen Themen fort, die Jackson in Dangerous erkundet. Wie sein Vorgänger setzt es die Erforschung seines neu entdeckten Interesses an industriellen Grooves fort (vielleicht sogar in noch größerem Ausmaß aufgrund des Einflusses von Bands wie Nine Inch Nails und deren bahnbrechendem Album The Downward Spiral von 1994, von dem Jackson ein Fan war). In ihrem Band über Dangerous beschrieb Susan Fast Dangerous treffend als ein Album, das mit „Lärm“ beginnt und weitgehend davon dominiert wird.4 Wie sein Vorgänger ist HIStory ebenfalls ein Album, das mit „Lärm“ beginnt, es beginnt mit Jacksons gequältem Schrei über einem schweren, industrialisierten Beat in „Scream“, gefolgt von dem militaristischen Sprechchor in „They Don’t Care About Us“, das gefüllt ist mit Polizeisirenen und einer Stimme, die über Funk einen schwarzen männlichen Tatverdächtigen beschreibt (allerdings ist es im Unterschied zu seinem Vorgänger kein Album, das zu diesem chaotischen Ausgangszustand zurückkehrt – ein Unterschied, den ich später beleuchten werde). Es teilt sich mit Dangerous ähnliche Themen sozialen Bewusstseins und Neoliberalismus. Und, wie auf Dangerous, experimentiert er weiter mit Hip-Hop und bringt Künstler wie The Notorious B.I.G. und Shaquille O’Neal für Gastspots ein. Jackson stellte sich HIStory wie Dangerous ganz klar als Konzeptalbum vor, wenn auch eines, dessen Struktur nicht so einfach oder klar definiert war, zumindest nicht beim ersten Zuhören. Doch obwohl sich HIStory viele Merkmale mit seinem Vorgänger teilt, gibt es deutliche Unterschiede. Seine Songs sind noch persönlicher, manchmal bis zu einem fast schon voyeuristischen Grad, seine Politik ist viel radikaler und die Wut und Entfremdung, die sie treibt, sind deutlich schärfer.

Michael Jackson hatte viel durchmachen müssen in den drei Jahren, die seit dem Dangerous Album vergangen sind. Er wurde von einem dreizehnjährigen Jungen beschuldigt, ihn belästigt zu haben, ein Vorwurf, der von dem Vater des Jungen angestachelt wurde, einem gescheiterten Drehbuchautor, der auf Band schwörend aufgenommen wurde, dass er Jackson „zerstören“ würde, nachdem seine Forderung zurückgewiesen wurde, einen Drehbuchdeal zu finanzieren. Er hat Polizeigewalt durch das LAPD und die Erniedrigung, die auf diese Beschuldigung folgte, überstanden (er wurde unter anderem dazu gezwungen, sich in einem Raum voller Polizeibeamten und gaffender Fremder nackt auszuziehen und sich anschließend fotografieren zu lassen). Während er seine Unschuld bewahrte, erfuhr er dennoch aus erster Hand, wie schnell der Lynchmob sich gegen einen wenden und wie schnell selbst der weltweit größte Entertainer unter die Räder geraten konnte. Er verlor das Sponsoring von Pepsi und andere lukrative Werbeverträge, obwohl er keines Verbrechens angeklagt wurde. Er sah den Auftakt eines jahrzehntelangen Bestrebens des getriebenen weißen Bezirksstaatsanwalts Kaliforniens, ihn zu „kriegen“ und um jeden Preis zu vernichten. Er wurde auf die Beobachtungsliste des FBIs gesetzt und folgte damit einer langen Reihe politisch kontroverser Prominenter – von Jimi Hendrix über Jim Morrison bis John Lennon – die unter offiziellen Staatsverdacht gestellt wurden. Der Stress und die Angst wegen alldem verschärfte im Gegenzug eine Medikamentenabhängigkeit von Schmerzmitteln und Opiaten, die in dem abrupten Abbruch seiner Dangerous Tour und einer äußerst strapaziösen Arbeit in der Reha-Klinik mündeten. Inmitten dieses Aufruhrs fand er die Liebe – oder zumindest nahm er das an, als Lisa Marie Presley wieder in sein Leben trat und eine Kindheitsschwärmerei entzündete, die auf die Zeit in den 70er-Jahren zurückführte, als Lisa Marie Shows der Jackson Five in Las Vegas besucht hatte. Das Paar heiratete im Mai 1994 inmitten eines Wirbelsturms aus Publicity und Kontroverse (freilich glaubten viele, dass das Timing der Hochzeit, welches mit dem den Anschuldigungen zusammenfiel, einfach etwas zu günstig war, während der Gedanke an eine Verbindung zwischen dem schwarzen King of Pop und der sehr weißen Tochter des King of Rock’n’Roll für andere einfach etwas zu berechnend war, um über jeden Verdacht erhaben zu sein). Aber während die Flitterwochen laut der meisten Berichte glückselig und leidenschaftlich waren, setzte bald Unzufriedenheit ein. Jackson und Presley waren ganz einfach zwei sprunghafte Persönlichkeiten, deren Verbindung dazu vorherbestimmt war, den Effekt von Öl auf Wasser zu haben. Kaum waren die Flitterwochen vorbei, begannen die Auseinandersetzungen (das Paar ließ sich zwei Jahre später scheiden, allerdings sprach Presley kürzlich in Interviews darüber, dass sie nach ihrer Scheidung eine turbulente, vierjährige Affäre geführt hatten – das klassische Paar, das nicht miteinander, aber auch nicht ohneeinander leben konnte). All das war natürlich nur das i-Tüpfelchen in einem Leben, das seit dem fünften Lebensjahr bereits mehr als nur eine Portion Drama erlebt hatte, ein Leben, das sowohl im unerbittlichen Glanz des Rampenlichtes gelebt wurde, als auch ein Leben, das all die hässlichen, hinterhältigen Facetten des Ruhmes erlebt hatte.

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Unter den gegebenen Umständen gab es keine andere Richtung, die Jackson hätte einschlagen können, um sich selbst als Künstler gegenüber treu zu bleiben. Wie konnten Kritiker realistisch betrachtet „Charme“ erwarten, wenn sich Jackson brutal behandelt fühlte, vom System niedergeschlagen und öffentlich gelyncht? Wie konnten sie von ihm erwarten, einfach weiterhin eingängige Tanzgrooves abzuliefern, wie jene, die er als Teenager und junger Mann in seinen frühen Zwanzigern geschrieben hatte, wenn er sich in Wirklichkeit inmitten einer Midlife-Crisis befunden hatte? Während er sich herumschlug mit Stalkern, Erpressern, Klagen, Eheproblemen, den Dämonen der Medikamentenabhängigkeit und einem Herzen, das wütend war wegen all der Ungerechtigkeiten – sowohl ihn selbst betreffend, als auch die ihn umgebende Welt? Wie heißt es so schön: Man kann nicht wirklich als „paranoid“ bezeichnet werden, wenn das, was man fürchtet, nur allzu real ist. Zugleich waren Entmündigung, Rassismus, politischer Aktivismus, getötete Kinder und die Bloßstellung „der Mächtigen“ ohne Zweifel nicht die Dinge, über die Michael Jackson „vermeintlich“ schrieb. Wie James Baldwin 1984 so prophetisch schrieb, hatte Michael Jackson „den Messingring an sich gerissen“ [die Phrase „grab the brass ring“ stammt vom Rummelplatz, auf dem derjenige, der sich z. B. bei einer Karussellfahrt den Messingring schnappt, eine Freifahrt gewinnt; sie steht für den Gewinn eines hart umkämpften Hauptpreises; Anm.d.Übers.], und es würde ihm nicht so leicht vergeben werden.5 Hatte Jackson die Pferde scheu gemacht, indem er es wagte, die ungerechte Behandlung ihm und seiner Rasse gegenüber aufzuzeigen – indem er sich weigerte, nach den Regeln zu spielen und „an seinem Platz“ als harmloser Lieder-und-Tanz-Mann zu bleiben? Das erinnert mich an ein Zitat von Nina Simones Tochter Lisa Stroud, die sagte, dass das größte Problem des kommerziellen Erfolges ihrer Mutter als afroamerikanische Künstlerin ihre Weigerung war, nach der Show „in den Käfig zurückzukehren und eine Banane zu essen“.6 Und tatsächlich wurde Simones extremer Bürgerrechtsaktivismus trotz der persönlichen Zufriedenheit, die er ihr brauchte, der sprichwörtliche Nagel im Sarg ihrer kommerziellen Karriere. So grob Strouds Ausdrucksweise auch sein mag, es ist eine treffende Feststellung, die durch die Geschichte afroamerikanischer Künstler, deren kommerzieller Erfolg abnahm, als ihr politischer Aktivismus zunahm, immer wieder bestätigt wurde und sie oft in einer „entweder/oder“ Position zu einer Wahl  drängte. Michael Jackson wurde nie ganz verziehen, sich 1985 die Rechte an über zweihundert Beatles Songs geschnappt zu haben. Ihm wurde gewiss nicht einfach verziehen, „the government don’t want to see (die Regierung will [es] nicht sehen)“7 gesungen zu haben und über einen prominenten kalifornischen Staatsanwalt „You think he brother with the KKK / I’ll bet his mother never taught him right, anyway (Du denkst, er ist mit dem KKK verbrüdert / ich möchte wetten, seine Mutter hat ihm jedenfalls nie Recht beigebracht)“8

Der Zug, HIStorys Erfolg zu untergraben, war schon vor der Veröffentlichung des Albums in vollem Gange, als die New York Times einen Artikel veröffentlichte, in dem „They Don’t Care About Us“ für seine „rassistischen“ Texte verurteilt wurde.9 Für einen Song, dessen Leitmotiv es war, Rassismus anzusprechen, war das eine absurde Behauptung. Es ist allerdings noch interessanter, wer diese Behauptung aufstellte – kein Geringerer als Bernard Weinraub, Ehemann der Chefin von Sony Picture, was nur als Bestreben eines Insiders erachtet werden kann, eine von Sonys eigenen Veröffentlichungen zu sabotieren. Weinraubs Kampagne funktionierte; sie entzündete Empörung in der jüdischen Gemeinde und beschädigte Jacksons enge Beziehungen mit vielen jüdischen Freunden und Unterstützern in der Branche, David Geffen und Steven Spielberg eingeschlossen. Sie resultierte auch in einer Flut von negativer Publicity für das Album, die nur schwer zu überwinden sein würde. Die 1990er kennzeichneten auf Gedeih und Verderb den Beginn einer Ära, in der Michael Jacksons Musik von einer Generation kurzsichtiger Kritiker beurteilt wurde, die nicht hinter das Spektakel um Jacksons Privatleben und der zunehmenden Boulevardkarikatur, zu der er wurde, zu sehen imstande schienen, um die Musik gerecht zu bewerten.

Trotz der gängigen Berichte, die so oft über Jackson als Künstler im kommerziellen Niedergang nach dem Höhepunkt der frühen 90er-Jahre gezeichnet wurden, bestätigen die Zahlen das allerdings nicht. HIStory, Blood On The Dancefloor: HIStory in the Mix und Invincible debütierten alle solide auf Platz Eins. HIStory wurde in der ersten Woche über 390.000 Mal verkauft und erzielte schnell ein RIA Ranking von siebenfach Platin.10 (Invincible, Jacksons letztes Studioalbum, wurde mehr als 13 Millionen Mal verkauft, eine Zahl, um die ihn die meisten gegenwärtigen Künstler mit Sicherheit beneiden würden!) In den Vereinigten Staaten debütierte die erste Single „Scream“ – unterstützt von dem mehrere Millionen Dollar teuren Video mit Jackson und seiner Schwester Janet als herumtobendes, androgynes Paar im Weltall – auf Platz 5 der Billboard Charts, während die nächste Single „You Are Not Alone“ die erste Single wurde, die jemals auf Platz 1 der Billboard Charts einstieg. In der Zwischenzeit verblieb „Earth Song“ im Vereinigten Königreich sieben Wochen lang an der Spitze der Charts und wurde dort zu Jacksons meistverkaufter Single. Während „They Don’t Care About Us“ in den Vereinigten Staaten verboten wurde, erreichte es international Top Ten Platzierungen – wie „Stranger In Moscow“. Das Album wurde letztlich für fünf Grammys nominiert. Wenn wir dann noch die 4,5 Millionen [Besucher] der HIStory Welttournee dazuzählen, die Jacksons eigenen Rekord für die Bad-Tour überboten haben, können wir mit Sicherheit sagen, dass dies keine schäbigen Zahlen für einen Künstler sind, der, wenn man den meisten aktuellen Kritikern Glauben schenkt, seinen kommerziellen Höhepunkt vor über einem Jahrzehnt hatte.

Offensichtlich blieb Michael Jackson bis zu seinem Tod 2009 ein kommerzielles Kraftwerk, was durch die noch nie dagewesenen Ticketverkäufe für seine „This Is It“ Konzertreihe bewiesen wurde (und auch über den Tod hinaus, wenn man die Erfolge der posthumen Projekte wie dem Xscape Album von 2014 beurteilt). Aber vielleicht ist die größere Frage nicht, ob Michael Jackson immer noch große Zahlen bewegen konnte (er war schließlich Michael Jackson!), sondern ob die Relevanz seiner Musik in einer von Gangsta-Rap, Techno und Post-Grunge Industrialismus dominierten Ära aufrechterhalten werden könnte. Während sich Jackson als Künstler erwiesen hat, der nicht nur bereit war, sich mit dem Wandel des Geschmacks und der Zeit zu entwickeln und der sich (wie jeder wahre Künstler) aus Gründen seines eigenen Wachstums und Verstandes entwickeln muss, schienen ihn damals viele Kritiker in alten Zeiten eingefroren haben zu wollen – ein Image, das für immer von einem Moonwalk, einer glitzernden Jacke und einem paillettenbesetzten Handschuh einzementiert war. Sie waren definitiv nicht dazu bereit, einen Michael Jackson anzunehmen, der fluchte; der es wagte, auf problematische Ungerechtigkeiten in der Welt hinzuweisen; der es begrüßte, von The Notorious B.I.G. „my nigga Mike (mein Nigger Mike)“ genannt zu werden; und der es wagte, der Welt im Video zu „They Don’t Care About Us“ zum ersten Mal einen Blick auf seinen durch Vitiligo verwüsteten, mit Flecken übersäten Körper zu gewähren. Darin lag nichts ausdrücklich Magisches oder Wundersames; es war sein Weg, die Illusion zu zerstören und uns die brutale Realität zu zeigen; und sie war vielleicht hässlich, aber in ihrer Ehrlichkeit verblüffend schön.

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HIStory war in hohem Maße ein Album jener Zeit und tauchte sowohl in die gesellschaftlichen Sorgen der Mitte der 90er-Jahre ein, als auch in den privaten Sturm, den Jacksons Leben damals ausmachte. Dennoch ist es auch ein Album, das – wie jedes bedeutende Kunstwerk – seine Zeit erfolgreich überdauert hat. Heute führen es Hardcore Jackson Fans oft als ihr Lieblingsalbum an und für einige liegt in dieser Auszeichnung eine gewisse „Hipness“; das Maß, mit dem der wahre Jackson Purist an dem flüchtigen Fan gemessen werden kann, dessen Kenntnis und Anerkennung Jacksons mit „Billie Jean“ beginnt und bei „Beat It“ aufhört. Das Album erhält schließlich auch seine Anerkennung von einer neuen Generation an Kritikern und Experten, die endlich in der Lage sind, das Album auf Basis seiner eigenen Bedingungen zu bewerten, abseits des enormen kommerziellen Erfolgs von Thriller und ohne die Vorurteile ihrer Vorgänger, denen es anscheinend nicht möglich war, ihre Ansichten über den Künstler Michael Jackson von der Boulevardkarikatur Michael Jackson zu trennen. Seit der Veröffentlichung von HIStory sind jetzt zwei Jahrzehnte vergangen und wie so oft ermöglichen Zeit und Abstand, die Dinge ins rechte Licht zu rücken, genauso wie den Fokus nachzuschärfen. Viele der politischen und ökologischen Themen, über die Michael auf HIStory geschrieben und gesungen hat – Botschaften, für die er vor zwanzig Jahren ringsum verspottet und kritisiert wurde – sind heute die beherrschenden Themen unserer Schlagzeilen. Als Jackson „Earth Song“ veröffentlichte, steckte die Umweltbewegung noch in ihren Kinderschuhen und der Gedanke der globalen Erwärmung erntete für gewöhnlich Spott und Hohn. Am Tag nach Jacksons Tod, dem 26. Juni 2009, wurde der Waxman-Markey Gesetzesentwurf vorbereitet, um vom Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten beschlossen zu werden.11 „Earth Song“ wurde schon vor langem als offizieller Titelsong der Umweltbewegung übernommen und ist auch heute noch der populärste Song, um das Thema des Umweltbewusstseins anzusprechen. „They Don’t Care About Us“ hat den Jahrtausendwechsel ebenfalls überdauert und gewann zuletzt als inoffizieller Titelsong der Black Lives Matter Bewegung wieder an Bedeutung. Kürzlich haben tragische Vorfälle in den Vereinigten Staaten (von den Unruhen, die nach der Erschießung eines unbewaffneten schwarzen Teenagers in Ferguson, Missouri ausbrachen, über die Schießerei in einer schwarzen Kirchengemeinde in Charleston, South Carolina) gezeigt, dass Amerikas rassenbezogene Wunden, die noch lange nicht verheilt sind, anscheinend sogar zu eitern begonnen haben. Als Demonstranten im ganzen Land auf die Straße gingen, wurden die „They Don’t Care About Us“-Rufe zu einem kollektiven Schrei. In D.B. Andersons brillanten Artikel, der unmittelbar nach den Unruhen in Ferguson in der Baltimore Sun unter dem Titel „Messenger King: Michael Jackson and the Politics of #BlackLivesMatter” erschienen ist, schreibt Anderson: „Auf Twitter ist ,They Don’t Care About Us’ ein Hashtag. In Ferguson schallte der Michael Jackson Song durch die Autoscheiben. In New York City und Berkeley wurde er letzte Woche von Demonstranten gesungen und aufgeführt. Und in Baltimore gab es einen magischen Moment, als der Morgan State University Chor Proteste mit einer Interpretation von Jacksons ,Heal The World’ beantwortete. Der Preis wurde bereits bezahlt, aber der Scheck wurde nie eingelöst. Vielleicht müssen wir letztlich nur Michael Jackson zuhören.“12

All das kann uns dem Konzept von HIStory näher bringen und Jacksons besonderen Gründen, diesen Titel ausgewählt zu haben. Neben dem beabsichtigten Wortspiel, welches das Album offensichtlich als autobiografisch betonen wollte, nutzt das Album praktisch auch jede bekannte Definition des Wortes. Laut Merriam-Webster ist die primäre Definition von „history“ die einer Erzählung oder Geschichte. Diese Definition wird wiederum mit jener in einen Topf geworfen, mit der wir wahrscheinlich vertrauter sind, der eines „chronologischen Berichtes wichtiger Ereignisse“. Dazu darf die sehr gezielte Unterteilung von HIStory in markante Kapitel – Books I, II und III – nicht ignoriert werden. Damals wirkte die Verbindung eines neuen Studioalbums mit einer Greatest Hits Sammlung wie eine ziemlich merkwürdige Marketingstrategie. Offensichtlich wurden hier zwei Ziele verfolgt: einerseits war es ein offensichtlich extremer Schritt, um die Umsätze zu maximieren (es ist eine lange Tradition der Plattenfirmen, einer Greatest Hits Sammlung ein oder zwei symbolische, neue Bonustracks hinzuzufügen, um Fans anzulocken, die bereits alle alten Songs besitzen, die Sammlung zu kaufen – in diesem Fall haben sie sogar fünfzehn davon bekommen!). Die Einbindung der Greatest Hits CD diente allerdings auch einem übergreifenden, ästhetischeren Grund beim Aufbau des Albumkonzepts. Die Books I und II sind gleichmäßig in genau fünfzehn Titel pro CD aufgeteilt; die Idee, eine ausgewogene Balance der dreißig Songs zu wahren, scheint also definitiv ein Teil eines gut ausgeführten Plans gewesen zu sein – jede Hälfte repräsentiert gleichermaßen Jacksons Vergangenheit und Gegenwart. Offensichtlich ist Book I, das aus den Songs zusammengesetzt ist, die Jackson zum erwachsenen Superstar gemacht haben, dazu bestimmt, die „Vergangenheit“ zu repräsentieren und als Testament dieses Kapitels „SEINER Geschichte (HIStory)“ zu dienen. Die Strategie ergab Sinn. 1995, als HIStory veröffentlicht wurde, waren genau fünfzehn Jahre nach Off The Wall vergangen, dem Album, das offiziell seine Erwachsenen-Solokarriere gestartet hatte. Bis 1995 gab es keine umfassende Sammlung seiner Hits der späten 70er, 80er und frühen 90er-Jahre, die Zeit war also sicherlich reif für eine Michael Jackson Greatest Hits Sammlung. Book I war auch Jacksons Art zu sagen „Dies sind die Songs, die mich hier hergebracht haben, an diesen Platz; auf den jetzigen Zenit.“

Mein Schwerpunkt wird allerdings auf Book II und den fünfzehn damals neuen Titeln liegen (welche die Gegenwart und die Zukunft repräsentieren), die das Herz und die Seele des Albums darstellen, sowie auf der Coda, die von den fünf zusätzlichen Titeln aus den HIStory Sessions repräsentiert wird, die auf dem Album erschienen sind, das im Grunde Book III war: Blood On The Dancefloor: HIStory In The Mix. Obwohl das Album als Feier der ruhmvollen Vergangenheit beginnen mag, beabsichtigte Jackson offensichtlich, seine Gegenwart und Zukunft in den Mittelpunkt zu stellen und deshalb werde ich diese Absicht hier ehren.

HIStory ist ein Album, das fast gleichmäßig zwischen zwei genau entgegengesetzten Enden des emotionalen Spektrums aufgeteilt wurde – einerseits Leidenschaft, Wut, Protest und das Eintreten für Veränderung (die ich den „heißen“ Songs des Albums zugeordnet habe) und Songs über Entfremdung, Verlust und Verzweiflung andererseits (die ich den „kalten“ Titeln des Albums zugeordnet habe – schmerzhafte, persönliche Überlegungen, die politischem Eintreten und Wut gegenüberstehen). Allerdings eignet sich kein Michael Jackson Album vollständig für solche eng definierten Kategorien, und HIStory ist sicherlich keine Ausnahme. Gewiss gibt es viele Titel, die sich solchen eindeutigen Kategorisierungen widersetzen – „Earth Song“ zum Beispiel ist ein Titel, der als ernsthaft reflektierende Klage beginnt und zu einer feurigen, apokalyptischen Predigt anschwillt, die uns dazu drängt, „nicht drauf zu pfeifen (give a damn)“. Zwangsläufig muss die Entscheidung darüber, einen bestimmten Titel dem „heißen“ oder „kalten“ Ende des Spektrums zuzuordnen, eine subjektive Entscheidung der Autorin sein und gewiss sind solche Entscheidungen nicht unfehlbar. Aber ich denke, es ist alles in allem eine Kategorisierung, die für die Abkapslung der Hauptthemen des Albums funktioniert, in dem Wut auf soziale und persönliche Ungerechtigkeit mit der Hoffnungslosigkeit und dem Unvermögen persönlicher Depression, Isolierung und Angst vermischt ist.

Doch weil dies ein Michael Jackson Album ist, wissen wir schließlich, dass er sich nicht damit begnügt, Angelegenheiten entweder in Verzweiflung oder zielloser Wut ohne Hoffnung auszudrücken. Das bringt mich zu der dritten Kategorie des Albums – Lieder der Versöhnung. Schließlich war sich Jackson seinem Status als Vorbild immer sehr bewusst. Ob er diese Rolle gerne angenommen hat oder nicht – er wusste, dass er sich als Künstler in einer Sonderstellung befand. Millionen Fans auf der ganzen Welt sahen zu ihm auf und folgten seinem Beispiel bereitwillig. Auf einer bewussten Ebene wusste Jackson, dass er sich nicht öffnen und sich selbst so verletzlich zeigen konnte, indem er uns erlaubt, seinen Schmerz stellvertretend mitzuerleben, während er uns gleichzeitig zu Wut auf weltweite Ungerechtigkeiten anstachelt, ohne zumindest etwas Hoffnung auf versöhnliche Heilung anzubieten. In anderen Worten: es muss eine Balance geben. Wenn „Geschichte“ etwas ist, woraus wir lernen, damit wir unsere früheren Fehler nicht wiederholen, wie genau gehen wir dann diesen Lernprozess an?

Die „Versöhnungs“-Titel des Albums, einschließlich des Titelsongs des Albums, sind zahlenmäßig weniger als jene, die die beiden vorherigen Kategorien repräsentieren. Sie erfüllen dennoch eine entscheidende Rolle in der Vollendung des Bogens des Albums und erinnern uns letztlich daran, dass jedes Individuum die Kontrolle über sein oder ihr Leben übernehmen und Verantwortung für sein eigenes Erbe übernehmen muss. „Every day create your history (Gestalte jeden Tag Deine Geschichte)“ sang Jackson und erinnerte uns daran, dass jede Entscheidung und Handlung, die wir treffen – oder nicht treffen – letztlich unser Schicksal formt und jene um uns herum beeinflusst. Letztlich ist HIStory ganz einfach ein Album der Selbstbevollmächtigung. Jackson wurden Narben zugefügt, er wurde beleidigt und getreten, aber – wie er einst erklärte – er hatte „die Haut eines Nashorns“ und wollte die Welt wissen lassen, dass er – zumindest im Sommer 1995 – überlebt hatte und aus diesem dunklen Kapitel seines Lebens gestärkt hervorgegangen war. Einer der berüchtigtsten Werbegags des Albums umfasste die Verschiffung einer 10 Meter hohen Statue Jacksons über die Themse, ein Akt, der natürlich seinen Anteil an Medienspott entzündete. Sicherlich trug solch ein Werbegag wenig dazu bei, Kritiker zu beschwichtigen, die bereits von Jacksons Größenwahn überzeugt waren. Aber die Botschaft wurde dennoch laut und deutlich vermittelt und wie bei allen anderen Aspekten seines Lebens war es eine Botschaft, die nicht leise und unscheinbar vermittelt wurde. Jackson wollte uns mitteilen, dass er immer noch aufrecht stand. Und er wollte uns, vielleicht noch wichtiger, wissen lassen, dass er all das überstanden hat, ohne den Glauben an die Menschheit oder sich selbst völlig verloren zu haben.

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Das Album repräsentiert letztlich SEINE Geschichte und ist ganz bestimmt die Geschichte eines Überlebenden.

Die Hitze (Jackson und schwarzer Kollektivismus)

Am I Invisible Because You Ignore Me?
Bin ich unsichtbar, weil Ihr mich ignoriert?

Es besteht kein Zweifel, HIStory ist ein mit Wut durchdrungenes Album. Aber ich möchte mit diesem Kapitel zeigen, wie diese 8 Titel, die etwas mehr als die Hälfte des Albums ausmachen, viel mehr repräsentieren als nur den Tropus des „wütenden schwarzen Mannes“. Man möge mir verzeihen, die auf der Hand liegende Parallele zu Mel Gibsons Film des Jahres 2004 zu ziehen – diese Titel repräsentieren die Leidenschaft (The Passion) von Michael. Das sind in der Tat Lieder der Leidenschaft – Lieder der persönlichen Wut und Lieder gegen persönlich wahrgenommene Ungerechtigkeit. Allerdings wirken selbst die persönlichsten lediglich wie mikroskopisch kleine, flüchtige Eindrücke eines viel breiteren Spektrums – die Ungerechtigkeiten gegenüber Afroamerikanern und insbesondere die Ungerechtigkeiten, welche gegen afroamerikanische Künstler in der Musikindustrie aufrechterhalten werden. Aber es ist auch eine größere Bandbreite vorhanden als lediglich Rasse. „Earth Song“ stellt etwa einen grundlegenden Appell für den Wandel der Welt dar (bevor wir damit enden, den Planeten und uns selbst als Folge unserer selbst verschuldeten Apokalypse zu zerstören). Viele der Titel agieren zumindest auf zwei sehr unterschiedlichen Ebenen, wobei die aus persönlicher Erfahrung gewachsene Wut zuerst erweitert wird, um die seiner ganzen Rasse einzuschließen und schließlich die der ganzen Menschheit. In anderen Worten werden Jacksons Probleme – selbst seine persönlichsten – selten nur als seine eigenen gesehen. Sie sind eigentlich nur repräsentativ für die viel größeren Probleme, welche die Menschheit plagen. „Scream“, der erste Titel des Albums, arbeitet nach diesem Prinzip; die ersten beiden Strophen sind eindeutig ein persönliches Aufbegehren gegen die Belastungen und Frustrationen seines Lebens – in diesem Fall das eines Künstlers, der all seine Entwicklungsjahre unter dem harschen Blick des Rampenlichtes verbracht hatte; ein Leben, das nie frei war von den Forderungen des Showbusiness. Wenn ein Künstler das Recht auf einen Zusammenbruch hatte, dann war es Michael Jackson im Sommer 1995. „Scream“ und sein sich wiederholender Refrain „Stop pressuring me! (Hört auf, mich unter Druck zu setzen!)“ ist gewiss ein reinigender Schrei, bei dem wir davon ausgehen können, dass er an jeden gerichtet war, der Jackson das Leben herausgepresst hat – Manager, Handler, Anwälte, die Medien, Paparazzi, Angestellte, Produzenten, Vorstände, Erpresser, Stalker, Groupies, Familie und gewissermaßen sogar die Fans. Jeder, der Forderungen an ihn stellte und versuchte ihm zu befehlen, wann er wo sein sollte und sogar, wer er sein sollte; jeder, der Erwartungen erschuf, der erfüllt werden müssen. Die ersten beiden Zeilen „Tired of injustice / Tired oft the schemes (der Ungerechtigkeit überdrüssig / der Systeme überdrüssig)“ geben den Ton für das gesamte Album an und die zweite Strophe „You’re selling out souls / But I care about mine (Ihr verkauft Seelen aus / Aber meine ist mir wichtig)“13 kann nur als ein Ausruf von jemandem interpretiert werden, der seine Seele wahrhaftig bedroht fühlt. Aber in der Überleitung erweitert sich der Song nach außen, über das persönliche hinaus. Diesen Wendepunkt markiert das Segment, in dem Jacksons Schwester Janet folgende Zeilen spricht: „Oh my god I can’t believe what I saw / As I turned on the TV this evening / I was disgusted by all the injustice (Oh mein Gott, ich kann nicht glauben, was ich gesehen habe / Als ich heute Abend den Fernseher aufgedreht habe / Ich war angewidert von der ganzen Ungerechtigkeit)“ und Jacksons Stimme den sich wiederholenden Refrain „All the injustice (die ganze Ungerechtigkeit)“ wiederholt. Gerade noch hörbar unter ihrem Gesang erklingt der Sound einer Polizeisirene und die Stimme eines Nachrichtensprechers, der über das Verprügeln eines Raubverdächtigen, einem 18-jährigen Schwarzen, berichtet. Dieses Verschwimmen der Zeilen von dem persönlichen Unrecht und der Frustration eines Entertainers hin zu den größeren Sorgen der Welt ist ein sehr charakteristisches Markenzeichen von Jacksons kulturellem Kollektivismus. „Ich bin, weil wir sind“, wie Leslie R. Carson 2008 in ihrem Essay über afroamerikanischen Kollektivismus schrieb, eine Phrase, die tatsächlich die Stimmung hinter den meisten der acht Titel wiedergibt.14

Schwarzer und rassenbezogener Kollektivismus weiten sich im zweiten Titel „They Don’t Care About Us“ exponentiell aus, in dem sich Jacksons persönliche Kämpfe mit Rassismus (von der Wut stammend, die seitdem erzwungenen Entkleidungsvorfall eiterte, den er dem Gefühl eines Sklaven auf einem Auktionspodium gleichsetzte) nahtlos mit vielen Stimmen und Geräuschen vermischen, welche die Entrechteten und die Unterrepräsentierten darstellen. Ein Chor wütender, junger schwarzer Stimmen skandiert „Alles was ich sagen will ist, sie interessieren sich nicht wirklich für uns (All I wanna say is they don’t really care about us)“, während sich eine Stimme über den anderen erhebt „Genug ist genug von diesem Müll! (Enough is enough of this garbage!)“. Und erneut haben wir die fast zwangsläufige Bezugnahme auf einen schwarzen männlichen Tatverdächtigen, der über Polizeifunk beschrieben wird. „Schwarzer Mann, Schwarzer Mann / Wirf den Bruder ins Gefängnis (Black man, black man/Throw the brother in jail)“15 singt Jackson – eine Zeile, die weitreichende Folgen haben wird in einem Land, das immer noch taumelt wegen der Rodney King Schlägerei und den Rassenunruhen in Los Angeles. Im Laufe des Songs gibt es ständig Verlagerungen des Erzählstandpunktes, was etliche Kritiker verwirrte, die das Konzept nicht zu verstehen schienen, dass Zeilen wie „Ich bin ein Opfer von Polizeigewalt (I am a victim of police brutality)“ und „Bin ich unsichtbar, weil ihr mich ignoriert (Am I invisible because you ignore me)“ sowohl von schwarzem Kollektivbewusstsein und Minderheitenidentität handeln, als auch von persönlicher Identität, vielleicht sogar mehr als das. Oder greifen wir auf eine der fundamentalsten Regeln der literaturwissenschaftlichen Analyse und interpretierenden Erklärung zurück – eine, welche die meisten Schüler bestimmt kennen, wenn sie Highschool-Englisch abgeschlossen haben – nur, weil es ein „Ich“ gibt, bedeutet das nicht, dass der Verfasser von sich selbst spricht. Aber hier gleitet Jackson so austauschbar und unauffällig zwischen den Rollen hin und her, dass jenen Kritikern ihre Verwirrung sicherlich vergeben werden könnte. Er ist mehrmals das allwissende, allessehende „Ich“, das gleichzeitig mehrere Rollen innehat – er ist der schwarze, männliche Verdächtige im Polizeifunk, er ist der verfolgte Jude, er ist der „Bruder im Gefängnis“, er ist die Stimme des Pöbels.

Jacksons kollektive Vision dominiert die meisten der acht Titel dieser Kategorie, obwohl sie bei manchen stärker oder schwächer ausgeprägt ist als bei anderen. Sicher lenken Titel wie „Money“ und „Tabloid Junkie“ den Fokus deutlich auf persönliche Themen zurück – mit „Tabloid Junkie“, das Jacksons ersten wirklichen Angriff auf die Medien mittels Song repräsentiert. (obwohl viele „Leave Me Alone“ vom Bad Album als Jacksons ersten Anti-Medien Protest betrachten, stimmt das nicht ganz. Es war lediglich das Video von 1989, das eine Anti-Medien Thematik enthielt; der Titel selbst ist einfach ein Song über eine Beziehung, die in die Brüche ging. Das verdeutlicht allerdings die Wichtigkeit, Jacksons Songs im Kontext von zumindest zwei unterschiedlichen Medien zu analysieren – die akustische Komponente, welche durch die aufgenommenen Titel repräsentiert wird und die visuelle Komponente, welche durch die Videos und Liveauftritte repräsentiert wird; ein wichtiger Faktor, auf den ich mit Sicherheit im Verlauf des Buches eingehen werde, wenn diese Titel besprochen werden.)

Aber Jacksons schwarzer Kollektivismus ist sicherlich eine Präsenz, die in Titeln wie „This Time Around“ stark zu spüren ist, wo ein Gastrap von The Notorious B.I.G. eine Generationskameradschaft zwischen ihm selbst als Vertreter der Gangsta-Rap-Generation und Jackson heraufbeschwört. Laut den Songtexten haben sie die gleichen Probleme, nämlich den Verlust von Freunden, den Verlust der Fähigkeit zu vertrauen und die zunehmende Isolation, die sich aus der Paranoia und Angst ergibt, die mit Erfolg einhergehen – „und ich kenne meinen Nigga Mike so“16 – sagt Notorious B.I.G., indem er seinen Rap in ein symbolisches High-Five mit seinem älteren Vorreiter gipfeln lässt und ihre Generationskluft gewissermaßen überbrückt. Und sicherlich ist „D.S.“, welches das reale Katz-und-Maus-Spiel zwischen Jackson und dem Bezirksstaatsanwalt aus Santa Barbara, Tom Sneddon (Jackson war raffiniert und ihm war bewusst, dass sich der fiktionale Name „Dom Sheldon“ unheimlich nach „Tom Sneddon“ anhören würde, wenn er im Songtext ausgesprochen wurde), parodiert, sowohl als persönliche Anklage gegen den Mann, der zum größten Dorn in Jacksons Auge wurde, und als ein vernichtendes Exposè korrupter, weißer Politiker, die „das System“ kontrollieren, gedacht. Letztlich war es nicht von Bedeutung, ob Jackson wirklich glaubte, dass Sneddon Verbindungen zum KKK hatte. Dieser Songtext war als eine Art symbolischer Ausruf gedacht und beabsichtigte gänzlich zu beschämen; zu demütigen. Und, wie einige vermuteten, könnte Jackson tatsächlich einen hohen Preis für seinen Mut – oder Tollkühnheit – bezahlt haben.

Diese acht Titel, so bahnbrechend sie auch waren, repräsentieren aber dennoch nur eine Facette von HIStory. Am entgegengesetzten Ende der „Passion von Michael“ bekommen wir etwas vollkommen anderes, als Jackson den Kollektivismus zurücklässt, um uns auf eine dunkle Reise zu persönlicher Verzweiflung mitzunehmen (vielleicht könnten wir sagen, sein eigenes persönliches Getsemani [das ist der Bibel zufolge ein Ort, an dem Jesus Christus in der Nacht vor seiner Kreuzigung betete, ehe er von Judas verraten und von den Abgesandten des Hohepriesters verhaftet wurde; Anm.d.Übers.]); ein Ort, an dem radikaler Protest und Wut durch die Hoffnungslosigkeit persönlicher Entfremdung und Infragestellung ersetzt wurden. Gerade als wir denken, dass wir eine militaristische Reise angetreten haben, nimmt das Album eine scharfe Linkskurve und hinterlässt uns inmitten eines verlassenen Schlachtfeldes – ein desolater Ort, an dem uns der Tod, wenn schon nicht durch Schüsse, dann aber mit Sicherheit durch langsames, quälendes Verhungern ereilt.

Die Kälte (Lieder der Entfremdung, Isolation und Verzweiflung)

Armageddon of the Brain
Armageddon des Gehirns

Wenn einer dieser vier Titel als unbestrittenes Herzstück der „Kälte“-Kategorie dient, dann müsste das zweifellos „Stranger in Moscow“ sein, ein Titel, von dem James Hunter vom „Rolling Stone“ sagte, er würde „mit dem Schmerz jedes Rockers aus Seattle konkurrieren“.17 Die ganze Szenerie des Songs (ungeachtet dessen, ob man tatsächlich glaubt, dass sich der Protagonist in Moskau befindet oder ob die Stadt selbst lediglich eine Metapher ist), erzeugt das Gefühl, ein Alien in einer fremdartigen, kalten Landschaft zu sein, ein Empfinden, das durch die gesprochenen russischen Worte während der Ausblendung intensiviert wird. Wenn man kein Russisch spricht, sind die Worte nicht zu entziffern und betonen in diesem unübersetzten Zustand für den Zuhörer das Gefühl, ein Alien zu sein, der sich durch ein fremdes Land bewegt. Der Refrain des Songs bittet den Zuhörer, sich zu überlegen, wie es sich anfühlt „allein zu sein und innerlich kalt / wie ein Fremder in Moskau (alone and cold inside / like a stranger in Moscow)“18

Stranger in Moscow

Lyrisch gilt der Titel als einer von Jacksons unbestrittenen Meisterwerken. Selbst jene Kritiker, die das Album als Ganzes ablehnten, konnten sich seiner tief bewegenden Macht nicht widersetzen. Dieser Auszug aus Chris Willmans Rezension in der „Los Angeles Times“ fasst einige der Gründe für die schiere Kraft dieses Titels zusammen:

„Jackson wähnt sich selbst allein und verloren in einem erdachten Russland, in einer Zeit vor Glasnost, gejagt vom unsichtbaren KGB. ‚Hier meinem Ruhm ausgesetzt / Armageddon des Verstandes (Here abandoned in my fame / Armageddon of the brain)’ singt er in den düsteren, eingeengten Versen, bevor nach vier Minuten eine mitreißende Coda einsetzt und der Verfolgte plötzlich seine Fassung verliert, um über eine desolate, trostlose Einsamkeit zu klagen. Hier in diesem Song befindet sich der wahre Genius – und vielleicht die wahre Persönlichkeit von Michael Jackson.“19

Vieles aus der persönlichen Geschichte, das zu der Entstehung dieses Songs führte, ist bekannt, ist es aber wert, betont zu werden, um die Wurzeln des Songs zu untersuchen. Er wurde als unmittelbare Folge der Chandler Vorwürfe geschrieben, als Jackson den Stachel der Medienreaktionen und die daraus resultierenden Auswirkungen erstmals spürte. Obwohl der Großteil seiner Fangemeinde letztlich loyal blieb, muss es jene Zeiten gegeben haben, in denen er sich fragte, ob ihm alles, wofür er so hart gearbeitet hatte, einfach entrissen werden würde. Jackson befand sich inmitten seiner Dangerous Tour, als die Anschuldigungen losbrachen und das erste Konzert, das Jackson gab, nachdem die Nachricht eingeschlagen war, war in Singapur. Es gibt ein unter Fans sehr bekanntes Foto, das bei der Eröffnung dieses Konzerts von Jackson in dem Augenblick geschossen wurde, als er (in seiner gewohnt heroischen Pose) erstmals auf der Bühne erschien und langsam seine Sonnenbrille abnahm. Als er hinaussah auf das weite Meer an Gesichtern und tapfer versuchte, die Pose zu halten und seinen stoischen Gesichtsausdruck aufrechtzuerhalten, begannen die Tränen zu fließen. Es war nur ein Moment, so unmerklich, dass die Fans es wahrscheinlich nicht einmal mitbekommen haben, aber die Kamera sah ihn – und log nicht. Wie konnte er die Show fortsetzen, wenn er sich fragte, ob all diese Menschen nun dachten, er sei ein Monster? Aber irgendwie war es ihm möglich, Mut aus seinem Inneren zu schöpfen und den Auftritt fortzusetzen. Die Show musste schließlich weitergehen.

Singapur

Der Song beschreibt exakt und auf versengende Art den Gemütszustand, der aus plötzlicher Ächtung entsteht – „schneller und plötzlicher Fall in Ungnade (swift and sudden fall from grace)“ – und aus der Angst, von unsichtbaren Agenten verfolgt zu werden, die sich seinem Blick und seiner Kontrolle entziehen – „unsere Unterhaltung ist gefährlich, Baby (we’re talking danger, baby)”. Dann schien Jackson plötzlich völlig verschwunden zu sein.

Das war eine Zeit, an die ich mich sehr gut erinnern kann: als CNN berichtete, dass Michael Jackson „MIA“ war [MIA bedeutet „Missing in Action“ und ist im angloamerikanischen Sprachgebrauch die Statusbezeichnung für einen Soldaten, der wahrscheinlich im Kampf gefallen ist oder vermisst wird, über dessen Verbleib jedoch keine weiteren Informationen bekannt sind; Anm.d.Übers.] und „The Daily Mail“ einen „entdecke den Jacko“ Wettbewerb sponserte. Ich persönlich war damals zwiegespalten bezüglich der Berichte über die Vorwürfe. Ich war zu jener Zeit ein lockerer Fan von Jacksons Musik, aber kein begeisterter Fan im enthusiastischen Sinne. Daher hatte ich persönlich nichts in die Angelegenheit von Jacksons Schuld oder Unschuld investiert. Als Jackson schließlich aus seinem selbstauferlegten Exil heraustrat und sein Schweigen am 22. Dezember 1993 mit einer bundesweit ausgestrahlten Stellungnahme brach, erinnere ich mich allerdings, in seine schmerzerfüllten Augen gesehen zu haben, als er die Worte „Behandelt mich nicht wie einen Kriminellen, da ich unschuldig bin“ sprach und ich mir dachte „Dazu waren Eier in der Hose nötig“. Offensichtlich war ich mit dieser Beurteilung nicht allein. Als unmittelbare Folge seiner Rede zeigten landesweite Meinungsumfragen einen deutlichen Zuwachs jener Leute, die nun an seine Unschuld glaubten.

Michael Jackson – Neverland Statement 1993

Stellungnahme aus Neverland, 22.Dezember 1993

Mir geht es gut und ich bin stark. Wie ihr vielleicht schon wisst, bin ich nach dem Ende meiner Tour außer Landes geblieben, um eine Abhängigkeit von Schmerzmitteln behandeln zu lassen. Dieses Medikament wurde mir ursprünglich verschrieben, um den unerträglichen Schmerz zu lindern, unter dem ich nach der letzten wiederherstellenden Operation an meiner Kopfhaut gelitten habe.

In letzter Zeit wurden viele abscheuliche Äußerungen bezüglich der Anschuldigungen des ungebührlichen Verhaltens meinerseits gemacht. Diese Äußerungen über mich sind vollkommen falsch. Ich hoffe auf ein schnelles Ende dieser entsetzlichen – entsetzlichen Erfahrung, der ich ausgesetzt bin. Ich werde in dieser Stellungnahme nicht auf all die falschen Anschuldigungen eingehen, die gegen mich erhoben wurden, da mich meine Anwälte unterwiesen haben, dass dies nicht das geeignete Forum dafür ist. Ich möchte sagen, dass ich besonders aufgebracht bin wegen des Umgangs mit dieser Angelegenheit durch die unglaublich grausamen Massenmedien. Die Medien haben diese Anschuldigungen bei jeder Gelegenheit präpariert und manipuliert, um zu ihren eigenen Schlussfolgerungen zu gelangen. Ich bitte euch, abzuwarten und die Wahrheit anzuhören, bevor ihr mich abstempelt und verurteilt. Behandelt mich nicht wie einen Kriminellen, da ich unschuldig bin.

Anfang dieser Woche wurde ich gezwungen, mich einer entmenschlichenden und demütigenden Untersuchung durch das Santa Barbara County Sheriffs Department und das Los Angeles Police Department zu fügen. Sie präsentierten mir einen Durchsuchungsbefehl, der ihnen erlaubte, meinen Körper anzusehen und zu fotografieren – einschließlich meines Penis, meinem Gesäß, meinem Unterleib, Oberschenkel und jedem anderen Bereich, den sie wollten. Angeblich suchten sie nach Verfärbungen, Fleckenbildungen, Flecken oder anderen Beweisen für eine Pigmentstörung namens Vitiligo, über die ich zuvor gesprochen habe. Der Durchsuchungsbefehl schrieb mir außerdem vor, bei jeder Untersuchung meines Körpers durch deren Arzt zu kooperieren, um den Zustand meiner Haut festzustellen, einschließlich der Frage, ob ich Vitiligo oder irgendeine andere Hautkrankheit habe. Der Durchsuchungsbefehl erklärte des Weiteren, dass ich kein Recht dazu hatte, die Untersuchung oder die Fotos zu verweigern und wenn ich nicht mit ihnen kooperierte, würden sie diese Weigerung in jedem Prozess als ein Indiz meiner Schuld einbringen. Es war das demütigendste Martyrium meines Lebens – eines, das niemand jemals erleiden sollte. Und selbst nachdem ich die Demütigung dieser Untersuchung durchgemacht habe, waren die Beteiligten immer noch nicht zufrieden und wollten noch mehr Fotos machen. Es war ein Albtraum – ein entsetzlicher Albtraum – aber wenn es das ist, was ich ertragen muss, um meine Unschuld – meine komplette Unschuld – zu beweisen, dann soll es so sein.

Mein ganzes Leben lang habe ich lediglich versucht, Abertausenden von Kindern zu helfen, glückliche Leben zu leben. Mir kommen die Tränen, wenn ich ein Kind sehe, das leidet. Ich habe nicht getan, was mir vorgeworfen wird, aber wenn ich mir irgendetwas habe zuschulden kommen lassen, dann ist es, dass ich alles gegeben habe, was mir möglich ist, um Kindern auf der ganzen Welt zu helfen. Es geht darum, Kinder jeden Alters und jeder Rasse zu lieben, es geht um den Gewinn reiner Freude, wenn ich Kinder mit ihren unschuldigen und lächelnden Gesichtern sehe, es geht darum, durch sie die Kindheit zu genießen, die ich selbst versäumt habe. Wenn ich mir irgendetwas habe zuschulden kommen lassen, ist es, dass ich daran glaube, was Gott über Kinder gesagt hat: „Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Reich Gottes.“ In keiner Weise denke ich, dass ich Gott bin, aber ich versuche in meinem Herzen gottgleich zu sein.

Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen und ich weiß, dass sich diese schrecklichen Anschuldigungen als falsch herausstellen werden. Außerdem danke ich meinen Freunden und Fans sehr für all eure Unterstützung. Gemeinsam werden wir das durchstehen. Ich liebe euch sehr und möge Gott euch alle segnen. Ich liebe euch. Lebt wohl.

Zu jener Zeit erfuhren wir auch die Wahrheit bezüglich seines Verschwindens und Schweigens – er wurde in eine Londoner Reha-Klinik eingewiesen, wo er offenbar eine schwere Zeit damit hatte, sich auf eine reduzierte Behandlung einzustellen. Diese Umstände sind wichtig, um den Gemütszustand zu verstehen, der zu der Komponierung von „Stranger in Moscow“ führte. Stell’ Dir vor: An einem Tag ist man der King of Pop, der vor Tausenden auf der Bühne steht. Am nächsten Tag ist man „nur ein weiterer Süchtiger“, der an einer Infusion hängt, sich selbst in einer Gruppentherapie vorstellt und im Kunstunterricht Papierdinosaurier bastelt.20 So stellte sich die Kehrtwende und das abrupte Zerbröckeln von Jacksons Leben dar, während sich seine Wahrnehmungen darüber, wer er selbst war und wie er seine Welt sah, plötzlich veränderten.

Es war in jenen ersten Wochen und Monaten nach Jacksons Tod 2009, als ich mich unerklärlicherweise dazu gezwungen fühlte, soviel ich nur konnte über ihn zu recherchieren und zu lernen, dass ich viele Titel auf HIStory entdeckte, einschließlich „Stranger in Moscow“. Da war etwas in jenen Zeilen, so klagend vorgebracht, als seine Stimme erklang und die Feststellung „Ich lebe EINSAM, Baby (I’m living LONELY, baby)” sang – das löste ein Frösteln in mir aus, von dem ich mich, wie ich fürchte, nie ganz erholt habe. Es ist vielleicht der Hauptgrund, warum ich heute hier bin und versuche, dieses Album in vollem Umfang als autobiografischen Schlüssel zu dem Rätsel Michael Jacksons zu verstehen, wie ich es in den vergangenen sechs Jahren getan habe. Ich wuchs generationsbedingt gesprochen mit Michael Jackson auf. Ich wurde nur sechs Jahre nach ihm geboren und war in der Grundschule während der phänomenalen Jahre, als die Jackson 5 zu Ruhm kamen (und ich habe immer noch sehr lebhafte Erinnerungen an einen Faustkampf in der zweiten Klasse – bei dem ich das meiste abbekommen habe – nachdem ich gegenüber einem anderen achtjährigen Mädchen eine Bemerkung gemacht hatte, das genug davon hatte, die ganze Zeit „Rockin’ Robin“ im Radio zu hören – selbst in diesem Alter waren Michael Jackson Fans eine Kraft, mit der gerechnet werden muss!). Ich war ein Teenager, als Jacksons Solostar mit Off the Wall in die Stratosphäre schoss und eine junge Erwachsene, als Thriller und der Moonwalk die Welt eroberten. In den dazwischen liegenden Jahren heiratete ich zum ersten Mal und begann mein College-Studium (ja, in dieser Reihenfolge!). Ich erlebte den ganzen Wahnsinn der Bad- und später Dangerous-Ära mit. Ich war damals, wie jetzt, ein leidenschaftlicher Musikfan, betrachtete mich allerdings mehr als Metalhead- und Hardrock-Fan. Aber dennoch war Jackson immer da; eine definierende Präsenz unserer Generation. Auch wenn wir ihn nicht mochten (oder – wie es bei vielen von uns ach so coolen Rockern der Fall war – vorgaben, es nicht zu tun), wir konnten ihn nicht ignorieren. Es war unmöglich, MTV einzuschalten, ohne sein neuestes Video zu sehen, das Dutzende Male täglich wiederholt wurde (einige von uns nahmen sich dann wirklich die Zeit, über den Weg nachzudenken, den er für afroamerikanische Künstler gebahnt hatte, nur durch diese schlichte Meisterleistung!). Jede neue Veröffentlichung von Michael Jackson war ein Weltereignis; wir warteten immer mit angehaltenem Atem (auch wenn wir es nicht zugaben), um zu sehen, was sein nächster Schritt sein würde. Irgendwie wusstest Du immer, was auch immer er auf Lager hatte, es würde magisch und nicht von dieser Welt sein. Ich erlebte den gesamten Verlauf und Bogen seiner jungen Karriere von dem jungen schwarzen Gott, der nichts falsch machen konnte, zu der zunehmenden Boulevardpräsenz und Comedianpointe, die er schließlich wurde.

Zu den Zeiten von HIStory durchlebte ich eine Scheidung und kämpfte damit, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Wieder einmal schien es, dass unsere Leben entlang einer unheimlich ähnlichen Bahn verliefen. Jackson machte auch viele Belastungen der Midlife-Crisis durch, Scheidung und Vaterschaft, alles in rascher Abfolge. Während seinem höchst öffentlichen Prozess 2005 befand ich mich unter jenen, die nicht widerstehen konnten, die Urteilsverkündung anzusehen, wenn auch aus keinem anderen Grund, als dem unwiderstehlichen menschlichen Drang nachzugeben, ein Zugunglück zu betrachten oder vielleicht der uralten morbiden Faszination nachzugeben, die tragische Helden auslösen. Dennoch erinnere ich mich an eine unermessliche Erleichterung, als die Urteile verkündet wurden: Nicht schuldig in allen Anklagepunkten. Während der vier Jahre nach dem Prozess dachte ich nicht oft an Jackson. Ich war an der Hochschule und arbeitete hart daran, einen Roman fertig zu stellen, den ich als kreative Diplomarbeit schrieb. Gelegentlich schnappte ich eine Story über Jackson in den Boulevardblättern auf. Er lebte mit seinen Kindern im Ausland und die Storys drehten sich immer um irgendeine angebliche Eskapade in Bahrain und für gewöhnlich waren sie von einem gewollt verrückten Foto von ihm begleitet, das ihn in eine Burka gehüllt und eines seiner verschleierten Kinder an der Hand haltend zeigte. Ich sah diese Storys nie ohne ein Gefühl unerklärlicher Traurigkeit. Ich nahm an, dass Jackson vielleicht den Rest seines Lebens im Exil in Übersee verbringen würde, verurteilt vom Gericht der öffentlichen Meinung seiner Heimat, auch wenn er vom U.S. Justizsystem entlastet wurde.

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Aber während der Monate, die unmittelbar zu seinem Tod führten, begann etwas Seltsames zu passieren. Während eines Spontankaufs bei Walmart nahm ich eine Kopie von Thriller 25 mit. Das Anhören der CD erinnerte mich daran, wie sehr ich diese Songs wirklich, wirklich geliebt habe, angefangen bei dem wilden Funk von „Wanna Be Startin’ Something“ zu der ikonischen, herzschlagbeschleunigenden Basslinie von „Billie Jean“. Und da ich nun erwachsen genug war, um zu wissen, wie ich jede Musik ohne die Sorge um Labels oder kleinkarierte Kategorien schätzen kann, konnte ich nach all den Jahren schließlich zugeben: Michael Jackson hat verdammt gute Musik gemacht – eine der großartigsten, die es je gegeben hat.

In diesem Frühling 2009 lag etwas in der Luft. Ein Gefühl, dass sich das Blatt gewendet hat. Jackson verkündete seine Serie an „Comeback“ Konzerten, This Is It. American Idol widmete seiner Musik eine ganze Show. Die Ticketverkäufe für die Konzerte waren beispiellos und binnen kürzester Zeit wurde der Umfang auf fünfzig Shows erhöht. Ich habe immer noch wehmütige Erinnerungen daran, all diese begeisterten Kommentare von Fans auf Youtube gelesen zu haben, die ihre Tickets erworben hatten. „Ich kann nicht glauben, dass ich ihn endlich sehen werde!“ schwärmte ein Fan, der wahrscheinlich noch in den Windeln lag, als Thriller erschienen ist.

Dann kam die unfassbare Nachricht, dass er gestorben ist. Aus irgendeinem Grund, den ich nicht ganz begreifen konnte, fand ich mich selbst in der weltweiten Trauerbekundung gefangen. Für jene aus meiner Generation fühlte es sich an, als wäre ein Familienmitglied gestorben. Ich habe seitdem mit vielen Leuten gesprochen, die dasselbe gefühlt haben – eine unerklärliche Trauer, die nicht aus der Fangemeinde kam, sondern viel tiefer war und nicht erklärt werden kann. Ich habe auch sechs Jahre später keine Worte dafür. Aber in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten fühlte ich mich dazu gezwungen, alles über ihn zu recherchieren und zu lernen, was ich nur konnte. Was ich während dieser Suche entdeckt habe, war ein Mann, ein Künstler und ein Leben, der/das mich absolut fasziniert hat – und jemand, der mein eigenes Leben auf so vielfältige Art und Weise verändert hat, dass ich es nicht erklären kann.

Wie ich bereits vorher sagte, entdeckte ich die Songs des HIStory Albums erst zu jener Zeit. Wenige von ihnen hatte ich bereits gehört, hauptsächlich die großen Hits in den Vereinigten Staaten wie „You Are Not Alone“ und „Scream“. Aber es waren jene Songs, die ich noch nicht kannte – „Stranger in Moscow“, „Earth Song“, „They Don’t Care About Us“ – die mich wirklich fesselten. Ich wiederholte diese Songs immer wieder; etwas an ihnen verfolgte mich. Ich bekam sie nicht aus meinem Gedächtnis. Ich war fassungslos, als ich erfuhr, dass viele dieser Titel große internationale Hits waren, während viele in den U.S. sie noch nie zu Gehör bekommen hatten. Das war der Beginn meiner Enthüllung, wie schäbig Jackson von seiner eigenen Heimat behandelt wurde. Vor allem war ich überzeugt, dass dies die Songs waren, die ich wirklich kennen musste, wenn ich verstehen wollte, wer Michael Jackson war. Wochen danach wollte ich diese Songs vom Dach der Welt erklingen lassen.

Sicherlich versuchte Jackson uns jahrelang zu sagen, dass er Schmerzen hatte, ein Aufschrei, der beim Großteil der Welt entweder auf taube oder gleichgültige Ohren stieß – oder noch schlimmer, der auf grausamste nur erdenkliche Art verspottet wurde. Michael Jackson sollte uns zum Tanzen bringen; uns Magie oder Romantik geben. Als Gesellschaft kümmerten wir uns nicht um sein Ersticken in Selbstmitleid. Und dennoch ist da etwas an „Stranger in Moscow“, das entweder persönliches Leid oder Mitleid übersteigt. Jene frühen Kritiker, die es als Titel abgeschwächter existenzieller Kraft herausgriffen und die Schönheit perfekt erfassten, die im Leiden vorliegt, trafen ausnahmsweise den Punkt. Wenn Jackson im Begriff war, das Vergnügen zu beenden, um uns in die grässliche Seite seines Lebens zu befördern und uns indirekt einen flüchtigen Blick auf den Schmerz, die Einsamkeit und Isolation zu erlauben, die seine Realität waren, gab es keinen besseren Weg, das zu tun, als sich auf den gerade erst beendeten Kalten Krieg als perfekte Metapher zu berufen.

YANA

Während sowohl „Stranger in Moscow“ und Jacksons süßliche (jedoch oft missverstandene) Ballade „Childhood“ offensichtlich in diese Kategorie zu gehören scheinen, scheint die Einbeziehung von „You Are Not Alone“ und „Little Susie“ willkürlich und schwerer zu definieren. Sicherlich könnte das von R.Kelly verfasste „You Are Not Alone“ (einer von nur drei Titeln des Albums, die Jackson nicht geschrieben hat) als ein Titel betrachtet werden, der eher in die Kategorie „Songs des Gleichgewichtes, der Versöhnung und Heilung“ passt, abhängig davon, wie man den Song interpretiert. Einerseits ist es ein Song über Isolierung als Folge einer Trennung (und einer, der sich das vertraute Liebeslied-Klischee eines verschmähten Geliebten zunutze macht, der dennoch gelobt, immer für seine Geliebte da zu sein), allerdings ist der Song auch eine spirituelle Nummer, in der der Protagonist der Stimme einer höheren Macht lauscht, die ihm versichert, dass er „nicht allein“ ist. Jacksons Darbietung des Titels erhebt ihn auch in das Reich des Spirituellen. Wie er es so oft bei anderen bekannten Balladen wie „Man in the Mirror“ und „Will You Be There“ gemacht hat, verwandelt er das Finale des Songs in eine kraftvolle, improvisierte Gospeldarbietung, die den Dingen am Ende eine positive Note zu verleihen scheint – selbst wenn wir denken, wir seien allein und niemand ist da, um uns hochzuheben, ist das nicht der Fall. Der Titel ist, wenn überhaupt, ein Testament an die Macht bedingungsloser Liebe. Gott lässt sie uns angedeihen; wir müssen im Gegenzug lernen, ebenfalls bedingungslos zu lieben. Ich muss zugeben, dass ich bei diesem etwas geschwankt habe, vor allem, weil „You Are Not Alone“ zumindest genau so viel von Hoffnung handelt wie von Verzweiflung. Allerdings fiel die Entscheidung, den Titel letztlich der „Kälte“ Kategorie zuzuordnen, deshalb, weil der Titel, wenn all der Gospel und das spirituelle Drumherum ausgeklammert wurden, immer noch von einem Protagonisten handelt, der physisch von der Liebe abgeschnitten wurde; einer, der jedem Tag allein gegenübertritt. Es darf nicht unterschätzt werden, dass Jackson diesen Song aufgenommen hat, als die ersten Zeichen der Eheprobleme mit Lisa Marie Presley auftauchten. Durch die Wahl, gemeinsam in dem erotischen (manche sagten peinlich erotischen) Video zu erscheinen, wurde „You Are Not Alone“ im öffentlichen Bewusstsein als „ihr“ Song einzementiert. Letzten Endes war es eine Zusammenarbeit, die sich als prophetisch erwies, da die Märchenromanze zerfiel.

„Little Susie“ ist einer der beiden Titel des Albums, die sich mit dem Thema Kindheit beschäftigen und es dürfte in Anbetracht Jacksons oft zitiertem Glauben an die Reinheit und Unschuld der Kindheit und seiner Überzeugung, dass Kindheit den Idealzustand darstellt, aussagekräftig sein, dass sich beide Titel in der Kategorie „Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung“ befinden. Das war allerdings nicht gerade Neuland für Jackson, der bereits das sehr sozialbewusste „Do You Know Where Your Children Are?“ über ausgerissene Kinder und Prostitution geschrieben hatte (ein Titel, der für das Dangerous Album aufgenommen wurde, der letztlich aber nicht für dieses Album genommen wurde). „Little Susie“, eine gothik-artige, makabere Geschichte über ein ermordetes Kind, das „so hart gekämpft hat, um zu leben“, ist strategisch als vorletzter Titel des Albums platziert – zwischen dem ermächtigenden Titeltrack „HIStory“ und der Ballade „Smile“, die das Album abschließt. Diese Platzierung scheint bewusst zu dämpfen, was ansonsten ein vollkommen optimistisches und positives Ende des Albums gewesen wäre, indem wir daran erinnert werden, dass die sinnlose Tragödie dennoch Teil unserer Realität ist – und jene dunklen Kräfte für immer und ewig in den Schatten lauern. Sowohl „Childhood“, als auch „Little Susie“ sind Erinnerungen daran, dass Kindheit, wie alles andere, Korruption ausgesetzt ist. In dem autobiografischen „Childhood“ und der Erzählung von „Little Susie“ wird die Kindheit letztlich von Erwachsenen geraubt und zerstört – von jenen, die einem Kind das Leben auf brutale Art und Weise nehmen würden und von jenen, die Kindheit zerstören, indem sie Kinder viel zu früh ins Erwachsensein drängen. In der Tat verbrachte Jackson das restliche Jahrzehnt und die Hälfte seines Lebens als politischer Fürsprecher für Kinderrechte, einschließlich „dem Recht, ein Kind zu sein“, wie er es oft sagte.

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Jackson nannte „Childhood“ oft seinen persönlichsten Song und er war unerschrocken in seinem Stolz darauf, trotz harscher Kritik, dass der Song zu sentimental und anwidernd war (oder, noch schlimmer, dem Glauben der kritischeren Zyniker, dass es ein Weg war, einige der fragwürdigeren Aspekte seines Verhaltens einfach wegzudiskutieren, speziell im Licht der damals frischen Vorwürfe). Selbst einige eingefleischte Fans Jacksons geben ohne Weiteres zu, dass es ein Song ist, den sie oft überspringen, wenn sie das HIStory Album abspielen und gleichermaßen war es der Song, den viele von uns in jenen ersten Wochen nach seinem Tod einfach nicht hören konnten, als die Emotionen noch so frisch waren. Das klagende Plädoyer „Before you judge me / Try hard to love me (Bevor Du mich beurteilst / Gib Dir größte Mühe mich zu lieben)“ war einfach ein zu harter Schlag in die Eingeweide unserer kollektiven Schuld. Auch heute hallt dieses Unbehagen noch nach. Obwohl „Childhood” ein Song ist, der wohl erst langsam seine Anerkennung erfahren wird, können wir seinen Mut nicht abstreiten, ihn „auf den Markt“ gebracht zu haben. Wie die meisten Alben seiner späteren Karriere in der Zeit nach Quincy Jones, ist HIStory ein Album der Extreme, in dem wir einige der mutigsten und radikalsten Songs in Jacksons Soloerwachsenenkarriere finden, die Songs unerschrockener Sentimentalität gegenübergestellt sind.

Es kann allerdings argumentiert werden, dass Jackson „Childhood“ als einen Song plante, der uns unbehaglich fühlen lässt und uns dazu zwingt, den Gegebenheiten ins Auge zu blicken, was eine dysfunktionale Kindheit verursacht. In gewisser Hinsicht scheint er uns zu sagen, dass all der Schmerz und die Störung, welche dieses Kapitel von HIStory durchdringen, ihren Ursprung genau hier haben. Und wie bei jedem Buchkapitel können wir wählen, es auszulassen oder zu überfliegen, wenn wir wollen: Die Folge solcher Abkürzungen ist allerdings, dass wir mit einer unvollständigen Geschichte und einem unvollständigen Verständnis darüber zurückgelassen werden.

Schmerz ist ein wesentliches und wichtiges Element davon, menschlich zu sein. Deswegen schneiden und verstümmeln sich manche, um etwas zu fühlen; irgendetwas. Kein Mensch kann ohne [Schmerz] existieren und keine menschliche Geschichte kann ohne existieren – und ehrlich existieren. Während der 90er-Jahre schien Jackson die Mission zu verfolgen, große Teile der Mauer aus Geheimnissen niederzureißen, die während der 80er-Jahre langsam um ihn herum errichtet wurde und uns einen flüchtigen Blick auf seine Menschlichkeit zu erlauben. HIStory war ein kühner und mutiger Schritt in diese Richtung und nirgendwo erlaubte Jackson sich selbst jemals, so verletzbar zu sein als auf den Titeln, die dieses Kapitel darstellen.

Aber lasst uns nicht vergessen: Dies war ein Buch mit vielen Kapiteln und verschiedensten Facetten. Wie in jedem Leben mag es Kämpfe gegeben haben, aber letztlich geht die Show weiter. Besonders, wenn Dein Name Michael Jackson ist.

Lieder der Balance, Versöhnung und Heilung

Jeden Weg, den Du einschlägst, Du hinterlässt Dein Vermächtnis
Eyery path you take you’re leaving your legacy

Book II von HIStory ist zeitweise bestimmt eine schwindelerregende Achterbahn und Jackson hat keine Skrupel, unsere Emotionen herumzuschleudern. Aber wenn die Extreme von Leidenschaft und Verzweiflung erst einmal erschöpft sind, wo lässt das dann die Zuhörer schlussendlich zurück? Was soll er oder sie von dieser Reise mitnehmen? Und vielleicht noch wichtiger: was soll der Künstler – der sein Herz für gute, volle sechzig Minuten freizügig offenbart hat – daraus mitnehmen? Wenn jene 10 Meter hohen Statuen, die auf verschiedene Plätze Europas verteilt wurden, irgendein Zeichen sind, ist die Botschaft klar. Jackson wollte uns wissen lassen, dass er ein Überlebender war. Wie Dante stieg er in die Unterwelt hinab und tauchte wieder auf, um die Geschichte zu erzählen.

Aber mit Sicherheit stand mehr auf dem Spiel als nur eine Bekundung persönlichen Triumphs über das Elend. Wir dürfen nicht vergessen, dass Jackson mehr als die Hälfte des Albums damit verbracht hat, das rassenbezogene kollektive Bewusstsein anzustacheln. Tatsächlich hätte Jackson HIStory leicht als ein Album belassen können, das einerseits radikalen Protest darstellt und beschauliche, persönliche Angst andererseits und es wäre immer noch ein großartiges Album gewesen. Aber das hätte seinem ganz persönlichen Ethos widersprochen, nachdem er seine Kunst gelebt hatte. In Jacksons Welt bestand das Schönheitsideal der Kunst nicht einfach darin, Wahrheit oder Realität als Selbstzweck zu beleuchten, sondern diese neu entdeckte Wahrheit und Erkenntnis zu nutzen, um hoffentlich auf einen besseren Weg zu zeigen. Wenn das Feuer der Wut und Ungerechtigkeit angezündet wurde; wenn wir diesem Feuer erlaubten, uns zu verzehren, war es in der Hoffnung, dass wir fähig sein könnten, die Glut zu schüren und sie in etwas umzuformen, mit dem wir leben können. Wenn er uns auf den Weg der Verzweiflung führte, war es in der Hoffnung, dass wir das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels finden würden.

Die Titel, welche die „Balance“ von HIStory umfassen (jene Titel, welche die schrecklichen Extreme von Hitze und Kälte überbrücken) sind überraschend wenige (es gibt nur drei von ihnen), aber sie erfüllen dennoch eine wichtige Funktion. In „Come Together“ und „HIStory“ kehrt Jackson zu dem Thema des Kollektivismus zurück, während der letzte Titel des Albums, „Smile“, eine Beteuerung des persönlichen Durchhaltevermögens ist.

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„Come Together“ mag als eine recht seltsame Wahl für das Album erscheinen. Jackson trug dieses Beatles Cover erstmals 1988 in seinem Film Moonwalker vor, einem Film, der großteils Lieder des Bad-Albums zeigte. „Come Together“ war weder auf dem Bad Album, noch erschien es fünf Jahre später auf Dangerous. Also warum entschied sich Jackson, dieses Cover wieder aufzugreifen und in HIStory einzufügen? Es ist bekannt, dass Jackson die Gewohnheit hatte, jahrelang über bestimmten Titeln zu brüten, um sie später wieder aufzugreifen und zu entscheiden, dass ihre Zeit gekommen war. Und nachdem Jacksons Verachtung für die Verwendung von Füllmaterial auf seinen Alben ebenfalls bekannt ist, müssen wir annehmen, dass die Wahl, dieses Cover wieder aufzugreifen und in HIStory einzubinden, keine leichte Wahl war. Er musste geglaubt haben, dass der Titel dabei half, das Konzept des Albums zu festigen und tatsächlich scheint seine strategische Platzierung auf dem Album (nach der straffen Gruppierung von „Earth Song“, „DS“ und „Money“ und als Überleitung dienend zu der Abwärtsbewegung von „You Are Not Alone“ und „Childhood“) diese Theorie zu bestätigen. Der Titel stellt in vielerlei Hinsicht den Höhepunkt der „Hitze“ Songs dar, in dem er die Hörer dazu drängt „zusammenzukommen“, um all die Ungerechtigkeit und Korruption zu stürzen, gegen die er auf dem Album größtenteils wettert. Obwohl Jackson inzwischen selbst ein ausgereifter Songschreiber war, war er sich selbst nicht zu schade, ein gut gewähltes Cover zu verwenden, wenn er an die Botschaft des Songs glaubte und eine Verbindung zu dem Material fühlte.

Die Originalversion, geschrieben von John Lennon für das Abbey Road Album 1969, entstand in einer Zeit, als die Trennung der Beatles bevorzustehen schien und es wird allgemein vermutet, dass jede Strophe des Songs ein kryptischer Verweis auf eines der Bandmitglieder ist, zurückgreifend auf das alte Sprichwort, dass das Ganze größer ist als die Summe seiner Teile. Während jede Strophe die einmaligen und/oder exzentrischen Eigenschaften des Einzelnen feiert, ist es das „Zusammenkommen“ dieser ganz verschiedenen Teile – die Einheit – die zustande kommen muss, um das Ziel zu erreichen. Auf HIStory kreiert Jackson einen neuen Kontext für den Song, bewahrt aber dennoch die Werte des Originals. Wahre Ermächtigung, wie auch sozialer Wandel, kann nur durch ein Übertrumpfen des Individualismus mit kollektiver Einheit stattfinden. Obwohl Jackson sein Leben lang ein Beatles-Fan war, war auch etwas Tollkühnes in der Entscheidung, dass er selbst, ein schwarzer Künstler (der jetzt noch dazu mehr als zweihundert Beatles Songs besaß!), diesen Song covert. Es enthielt das Echo der gleichen Verwegenheit, die Jimi Hendrix zeigte, als er sich dazu entschied, seinen Saville Theatre Gig in London ausgerechnet mit „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ zu beginnen – während Paul McCartney und Ringo Starr im Publikum saßen (es muss allerdings angeführt werden, dass es großartig ankam!). Wenn man allerdings berücksichtigt, dass sich Lennon selbst außergerichtlich mit Chuck Berrys Musikverlag einigte, der geltend machte, dass „Come Together“ eine unheimliche Ähnlichkeit mit Berrys Hit von 1956 „You Can’t Catch That“ aufwies, könnte das vielleicht als gerechte „Rückerstattung“ betrachtet werden (und es würde sich zweifellos mit dem Thema des rassenbezogenen Kollektivismus decken, das weite Teile HIStorys durchdringt).

Wenn Jackson wollte, dass seine Hörer etwas von HIStory mitnehmen, dann war es mit Sicherheit die Botschaft der Fähigkeit zur Selbstbehauptung. Der Titelsong erinnert uns daran, dass wir keine glücklosen Opfer unseres Schicksals sein müssen, sondern dass wir vielmehr direkte Produkte der von uns getätigten Entscheidungen sind. Das kam von einem Mann, der natürlich bereits auf Gedeih und Verderb viele Konsequenzen seiner eigenen Entscheidungen erkannte. Was ich am meisten an HIStory liebe, ist, dass es kein Album der Entschuldigungen oder Rationalisierungen ist, sondern vielmehr ein ehrliches Testament eines Künstlers und Menschen, der hart darum kämpfte, seine größten Ideale zu erfüllen – aber gelegentlich hinter ihnen zurückblieb, wie das bei allen Menschen der Fall ist. Wie er uns in dem Titelsong „HIStory“ erinnert, sind diese Tritte in den Rücken manchmal das, was wir brauchen, um motiviert zu bleiben. Dennoch können sie höllisch wehtun.

Jacksons vorheriges Album Dangerous war ein Album, das mit Chaos begann und schließlich einen vollen Kreis zu demselben Chaoszustand zog. HIStory ist allerdings eine ganz andere Reise. Obwohl die Ballade „Smile“ als merkwürdiges Ende für ein Album erscheint, das mit dem hart schlagenden, industriellen Knall von „Scream“ begann, ist es ein perfekt passender Abschlusstitel, der den Bogen des Albums zu seinem herzzerreißend schönen Ende bringt. Weit davon entfernt, eine vereinfachende Botschaft über das Lächeln durch den Schmerz hindurch zu sein, beschwört der Song das Pathos von jemandem herauf, der sich äußerst bewusst ist, eine Fassade aufzusetzen, um zu überleben. Es gibt offensichtliche Ähnlichkeiten mit Paul Laurence Dunbars bekanntem Gedicht „We Wear The Mask (Wir tragen die Maske)“:

Wir tragen die Maske, die grinst und lügt,
Sie versteckt unsere Wangen und schirmt unsere Augen ab, –
Diese Schuld zahlen wir an die menschliche Arglist;
Mit zerrissenen und blutenden Herzen lächeln wir,
Und sprechen mit einer Unzahl an Zwischentönen.

Warum soll die Welt superklug sein,
Beim Zählen all unserer Tränen und Seufzer?
Nein, lasst sie uns nur sehen, wenn
wir die Maske tragen.

Wir lächeln, aber oh großer Christus, unsere Schreie
Steigen zu Dir auf aus gequälten Seelen.
Wir singen, aber oh der Lehm ist abscheulich
Unter unseren Füßen, und lang ist die Meile;
Doch lass die Welt etwas anderes träumen,
Wir tragen die Maske! – Paul Laurence Dunbar21

Einige mögen jedoch argumentieren, dass wir nicht gerade sagen können, dass HIStory in einem triumphierenden Ton endet oder gar in einem selbstbefähigenden, wenn das tatsächlich die Botschaft von „Smile“ ist. Zeugt es wirklich von Stärke, wenn man Schmerz einfach hinunterschluckt und nach außen hin lächelt, damit es die Welt nicht sieht? Vielleicht ja und nein. Wir dürfen nicht vergessen, dass HIStory letzten Endes immer noch eine persönliche Erzählung ist, welche all die Stärken und menschlichen Fehler seines Erzählers wiedergibt. Seine Schönheit liegt zum Teil darin, nicht all die einfachen Antworten zu haben, selbst als es nach Versöhnung und Heilung strebt. Im Titelsong „HIStory“ gibt es eine vielleicht sehr aussagekräftige Rückblicksequenz, als die bei einem frühen Motown-Interview aufgezeichnete Stimme des zehnjährigen Michael Jackson über der verzerrten „America, The Beautiful“ zu hören ist, als er die Worte „I don’t sing it unless I really mean it. (Ich singe es nicht, wenn ich es nicht wirklich so meine.)“22 Die unübersehbare und versengende Ironie dieser Aussage ist, dass hier ein Kind offensichtlich von Erwachsenen trainiert wurde, um ein Image zu verkaufen; ein Kind, dass offensichtlich für das Leben im Showbusiness zurechtgemacht wurde – lache immer, verkaufe Dich selbst um jeden Preis, gib allen die richtige Antwort und lass‘ sie Dich niemals weinen sehen (was wir übersetzen könnten in „Lass sie Dich niemals schwach sehen“). Ob sich Jackson selbst dieser Ironie bewusst war – und die Aufnahme bewusst einsetzte, um sie anzuführen – ist wohl diskussionswürdig. Es könnte auf unterschiedliche Art interpretiert werden, eine ist der wortgetreue Vorsatz: dass Jackson bereits als Kind den Weg seines Vermächtnisses kreierte. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass dieser Titel nach „Childhood“ kommt, dem Song, in dem er uns daran erinnerte – falls wir eine Erinnerung brauchten – wie wenig Kontrolle er damals über sein Leben hatte, darf die Ironie und das Pathos, klein Michael diese Worte sprechen zu hören, im Kontext des Albums sicherlich nicht unterschätzt werden.

Letztlich erzielt HIStory eine Balance, aber vielleicht zu einem persönlichen Preis. Obwohl uns Jackson erfolgreich an die Weisheit „unser Vermächtnis zu kreieren“ heranführt, erzeugt der bittersüße Vortrag von „Smile“ immer noch einen erschütternden Schmerz für den Hörer. Wir wissen, dass der Schmerz des Vortragenden nicht weg ist; er ist einfach nur unterdrückt in dem Glauben, dass positives Denken ihn irgendwann übertrumpfen wird. Wenn wir allerdings ehrlich zu uns selbst sind, wissen wir, dass das die Realität des Lebens ist. Schmerz geht nicht weg. Wir können letzten Endes nur lernen, damit zurechtzukommen und wie wir damit zurechtkommen, wird für unser Überleben entscheidend sein.

Michael Jackson war ein Künstler, der viele Erfolge feierte, der beispiellosen Erfolg hatte und der versuchte, viele hohe Ideale zu erfüllen, sowohl seine eigenen, als auch die der Menschlichkeit. Die Schönheit HIStorys ist allerdings, dass er uns letztlich durch die Macht des Vorbilds erlaubt, genauso viel aus seinen Fehlern zu lernen, wie aus seinen Stärken. Hier war die Maske abgenommen; die Krone durch sprichwörtliche Dornen ersetzt und er erlaubt sich selbst, verletzlicher zu sein, als er es je zuvor war, oder vielleicht auch nie wieder sein wird. Es war wunderschön; es war hässlich; es war beängstigend und zeitweise sogar bedrohlich. Aber vor allem ging es darum, es wahrhaftig zu halten. Michael Jackson, das Motown Wunderkind, das früh gelernt hatte, unter allen Umständen zu „lächeln“, wurde definitiv erwachsen, für den Fall, dass daran irgendein Zweifel bestand. Und wenn der Zuhörer von dem Ende HIStorys völlig ausgelaugt ist, würde Jackson seine Aufgabe zweifellos als erfüllt betrachten. Jedem, der es schwer anzuhören findet, würde er triumphierend erwidern „Versuch‘ es zu leben.“

Eine seltsame Coda der Gattungen
(Blood on the Dance Floor: HIStory in the Mix)

Am I The Beast You Visualized?
Bin ich das Biest, das Du Dir vorgestellt hast?

Die Geschichte des HIStory Albums hätte normalerweise mit der Veröffentlichung des Albums und der Welttournee enden sollen, die Jacksons Zeitplan für die nächsten zwei Jahre vereinnahmte. Die Megamarketingstrategie dieser Chronik endete allerdings nicht auf solch vorhersehbare Weise. Im Laufe der Jahre wurde Jackson ein unfassbar produktiver Songschreiber, der oft über hundert Songs für jedes Album schrieb und aus diesen Sessions blieb normalerweise genug Material übrig, um leicht zwei bis drei vollkommen neue Alben zu füllen. HIStory war keine Ausnahme. Doch wenn sich das alte Sprichwort, dass die großartigste Kunst aus dem größten Leid geboren wird, jemals als wahr erwiesen hat, dann traf es sicherlich auf Jackson während dieser fünf Jahre zwischen 1993 und 1997 zu, in denen Jacksons Muse buchstäblich in Flammen zu stehen schien. Die HIStory Sessions brachten nicht nur die üblich hohe Anzahl an Outtakes hervor, sondern Jackson schrieb weiter neue Songs, welche die Themen ausbauten und nährten.

Die Veröffentlichung von Blood on the Dance Floor: HIStory in the Mix im Jahr 1997 diente als offizielle Coda der HIStory Trilogie. Bestehend aus acht Remixen vom HIStory Album und fünf neuen Studiotiteln, stellte das Album einen weiteren Rekord für Jackson dar und wurde das meistverkaufte Remixalbum aller Zeiten. Es waren allerdings die fünf neuen Titel, die Book III der Trilogie im Wesentlichen formten und die als offizielle Buchstütze für Jacksons historische Erzählung dienten. Wenn Book I „The Past (die Vergangenheit)“ repräsentiert und wenn große Teile von Book II „The Present (die Gegenwart)“ umfassen, dann sind es diese fünf Songs (vielleicht mit Ausnahme von „Blood on the Dance Floor“, einem Titel, der eigentlich aus den Dangerous Sessions übrig blieb), die gewissermaßen „The Future (die Zukunft)“ repräsentieren. Und tatsächlich sind sich die meisten Fans, Kritiker und Experten bei diesen fünf Titeln einig, dass sie als Einzementierung von Jacksons musikalischem Vermächtnis der 1990er-Jahre dienen. Diese fünf Songs könnten leicht für sich allein stehen und immer noch ein erstaunlich starkes und konzeptionell enges Minialbum ausmachen. Aber nachdem sie im größeren Zusammenhang mit der HIStory Trilogie stehen, muss man ihre angeschlossenen Themen natürlich innerhalb dieses Gefüges analysieren.

Obwohl diese fünf Titel eigentlich nicht Teil des HIStory Albums sind, sind sie es dennoch wert, als unkonventioneller, aber passender Abschluss dieses Albums untersucht zu werden. Zusammengenommen vertiefen und erweitern diese fünf Titel die Themen von HIStory – mit wenigen Wendungen, die sowohl als natürliche Folge der „heißen“, als auch der „kalten“ Songs von HIStory dienen. „Is It Scary“ stellt die logische Folge auf „Tabloid Junkie“ dar, wo der Protagonist – der den Gedanken offensichtlich aufgibt, die Medien zu bekämpfen – es annimmt, „das Biest“ zu werden, das wir uns vorgestellt haben. Hier wird Selbstreflexion intensiviert, ein Thema, das durch den begleitenden Kurzfilm Ghosts hervorgehoben wird, in dem Jackson viele Doppelrollen und Erscheinungsformen übernimmt, die alle dazu bestimmt sind, den Betrachter dazu zu drängen, seine Vorstellungen der Wahrnehmung zu überdenken und unsere Anschauungen darüber, was wahr ist und was eine Illusion ist, herauszufordern. Währenddessen sind „Blood on the Dance Floor“ und „Superfly Sister“ unverhohlene Songs über Sex. Der erste greift mit seiner schrecklichen Geschichte einer femme fatale und den Konsequenzen der Lust besonders auf vertrautes Territorium Jacksons zurück (die anhaltenden Diskussionen darüber, ob „Susie“ in Wirklichkeit eine Metapher für eine Geschlechtskrankheit ist, werden auch noch achtzehn Jahre später geführt), aber es gibt einen deutlichen Unterschied in jenen späteren Songs, die Sex thematisieren. Während die Lust und Handlungen des Protagonisten früher immer durch ein Gefühl der moralischen (wenn auch nicht streng religiösen) Konsequenz gemäßigt waren, scheint Jacksons Sicht nun viel nihilistischer (alle Werte verneinend). Das könnte die Entfaltung von Jacksons eigener Realität und das erhöhte Gefühl der seelischen Entwurzelung direkt widerspiegeln. Im Zuge des nachlassenden Glaubens an die Zeugen Jehovas und dem missglückten Versuch der Ehe wurde erzählt, dass der Rest seines Lebens zu einer Reihe beiläufiger Verhältnisse verdammt war, ohne einem echten Gefühl der Verbundenheit. Wie ein etwas enttäuschtes Groupie angeblich gesagt haben soll, „war er nicht auf der Suche nach Romantik, sondern nur auf Sex aus.“23 Ruhm und Reichtum zu haben, kann es sicherlich einfach machen, all die Vorteile haben zu können, ohne jegliche Verpflichtungen eingehen zu müssen. Beziehungen erfordern Arbeit; Sex ist einfach ein biologischer Trieb. Keine Bedingungen; keine Komplikationen. Und wie sich Jackson Freunden gegenüber bei zahlreichen Gelegenheiten anvertraute, empfand er es als schwierig, zu vertrauen. Er konnte sich niemals wirklich sicher sein, ob eine Frau ihn seiner selbst willen wollte oder wegen seines Geldes. In der Mitte seines Lebens hatte er schließlich gelernt, einige Teile der moralischen Schuld aus seiner Erziehung loszulassen und in einen unangepassten Lebensstil abzuweichen, der für ihn zu funktionieren schien. Wenn die Songs allerdings irgendeine Reflexion sind, war da immer noch ein Preis zu zahlen. Und dieser Preis könnte in vielerlei Formen in Erscheinung treten: von der Rachsucht einer verschmähten Geliebten über die schiere Einsamkeit und Abgetrenntheit, die aus einem Leben entsteht, das von den Armen einer Fremden zu denen der nächsten dahintreibt. Und in „Superfly Sister“ beleuchtet er beide Seiten, indem er einen absichtlich koketten und verführerischen Pep einsetzt, um die Vorstellung einer lockeren Beziehung zu vernichten (während er viele kryptische und vernichtende Verweise auf mehrere Familienmitglieder der Jacksons einwirft). Der Refrain „Holy Mary mercy me / Can’t believe the things I see (Heilige Maria erbarme Dich meiner / Kann die Dinge nicht glauben, die ich sehe)“ wird zu einem verspielten Aufschrei eines Protagonisten, der in seinem Leben so viel gesehen hat, dass ihn nichts mehr schockieren kann.

Wenn es hier einen Titel gibt, der das Kontinuum von „Stranger in Moscow“ am besten repräsentiert, wäre es zweifellos „Morphine“, ein sehr industrialisierter Titel, der wieder den starken Einfluss von Nine Inch Nails und Marilyn Manson auf weite Teile von Jacksons Werk der 90er-Jahre wiedergibt; ein Titel, den Thor Christensen von „The Dallas Morning News“ als „narkotisch industriellen Funk“ bezeichnet, der bei Weitem „einer der anspruchsvollsten Songs war, die er je aufgenommen hat.“24 Christensen verfehlte den Punkt allerdings komplett, als er die Überleitung, die für den Song von so entscheidender Bedeutung ist, so salopp als „Pampe“ abtat. In der Überleitung übernimmt Jackson buchstäblich die verführerische Stimme des Mittels und es ist zweifelsfrei eine seiner effektvollsten jemals auf Band aufgenommenen Performances, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Dieser Titel enthält wie so viele andere in Jacksons Repertoire mehrfach verschobene Erzählstandpunkte. Was sich aber insgesamt als besonders erschreckend herausstellt, ist die Geschichte einer Person, die der Verführung verfallen ist – eine Geschichte, die all jene Titel thematisch zu verbinden scheint. Es ist Verführung durch Ruhm, Verführung durch Lust, Verführung durch Ideale und vielleicht am schädlichsten – Verführung durch Betäubungsmittel, dem endgültigen und ultimativen Seelenzerstörer.

Wenn die Botschaft dieser fünf Songs, HIStorys letztem Kapitel, in jeglicher Richtung den Gedanken von Versöhnung und Balance abschwächt, der in Book II so hart erkämpft wurde, dann ist das vielleicht nicht ganz unbeabsichtigt. Obwohl Jackson sicherlich dafür gewürdigt werden kann, sich um einen positiven Abschluss zu bemühen (einen, der seinen persönlichen Ethos erfüllen würde), dürfte sich die Coda als weit prophetischer erwiesen haben – und ehrlich. Letztlich können wir nur unsere eigenen Schlachten kämpfen, und in den schwierigsten Zeiten kann uns niemand retten außer wir selbst. Für Jackson, der diese Reise so selbstbewusst in der Stärke des „wir“ begonnen hat, muss es entmutigend gewesen sein, am Ende dieser Straße anzukommen und nur ein „ich“ vorzufinden. Aber während diese Coda jede Idee der Balance abzuschwächen scheint und die Waage erheblich in Richtung Entfremdung und einer weit nihilistischeren Vision kippt, bleibt sie dem von HIStory dargelegten Prinzip dennoch treu. Letzten Endes ist das Album ein Testament vieler gekämpfter Schlachten, sowohl gewonnener als auch verlorener – einige auf persönlicher Ebene; einige auf globaler. Geschichte (History) wird, wie Winston Churchill feststellte, von Siegern geschrieben. Die Trilogie hindurch scheint das Jacksons erweiterte metaphorische Nutzung von „history“ auf viele überraschende und innovative Arten zu bestätigen. Allerdings ist die allumfassende Botschaft – eine, von der ich weiß, dass Jackson ihr sicherlich zustimmen würde – dass wir alle etwas daraus lernen sollten. Denn wenn wir bei der Gestaltung unserer eigenen Bestimmung nicht die Initiative ergreifen, könnten wir mit der Version, die das Schicksal für uns bereithält, sehr unzufrieden sein.

Quellenangaben hier ausklappen
  1. Stephen Thomas Erlewine, “HIStory: Past, Present and Future, Book I”, Allmusic, 1995. ↩︎
  2. James Hunter, “Michael Jackson:HIStory”, Rolling Stone, 1995. ↩︎
  3. Susan Fast, Michael Jackson’s Dangerous (New York: Bloomsbury), p. 8 ↩︎
  4. Susan Fast, Michael Jackson’s Dangerous (New York: Bloomsbury), p.17 ↩︎
  5. James Baldwin, “Here Be Dragons”, The Price of the Ticket (New York: St. Martin’s), 1985. ↩︎
  6. Lisa Stroud, What Happened, Miss Simone? Netflix, 2015. ↩︎
  7. Michael Jackson, “They Don’t Care About Us” HIStory:Past, Present, and Future, 1995 ↩︎
  8. Michael Jackson, “D.S.”, HIStory: Past, Present, and Future, 1995. ↩︎
  9. Bernard Weinrub “In New Lyrics, Jackson Uses Slurs,” The New York Times, 1995. ↩︎
  10. “Michael Jackson Charts and Awards: Billboard Albums,” Allmusic. ↩︎
  11. Alex Pasternack, “Was Michael Jackson The World’s Biggest Environmentalist,” Treehugger.com 2009 ↩︎
  12. D.B. Anderson, “Messenger King: Michael Jackson and the Politics of #BlackLivesMatter,” Baltimore Sun.com, 2014. ↩︎
  13. Michael Jackson, “Scream,” HIStory: Past, Present, and Future, 1995. ↩︎
  14. Leslie R. Carson, “’I am because we are’:collectivism as a foundational characteristic of African American college student identity and academic achievement,” Springer Science+Business Media, 2009. ↩︎
  15. Michael Jackson, “They Don’t Care About Us,” HIStory: Past, Present, and Future, 1995 ↩︎
  16. Michael Jackson, “This Time Around,” HIStory: Past, Present, and Future, 1995 ↩︎
  17. James Hunter, “Michael Jackson: HIStory,” Rolling Stone, 1995. ↩︎
  18. Michael Jackson, “Stranger in Moscow,” HIStory: Past, Present, and Future, 1995. ↩︎
  19. Chris Willman, “Pop Music Review:Hits and Misses,” The Los Angeles Times, 1995. ↩︎
  20. Frank Cascio, My Friend Michael: An Ordinary Friendship with an Extraordinary Man. (New York: William Morrow), 2011. ↩︎
  21. Paul Laurence Dunbar, “We Wear the Mask,” Poetryfoundation.org ↩︎
  22. Michael Jackson, “HIStory,” HIStory Past, Present, and Future, 1995 ↩︎
  23. “The Yvette Groupie Story,” Lipstick Alley.com Originally posted 2002. ↩︎
  24. Thor Christensen, “Jackson’s New ‘Blood’ Generally Thin:Singer’s work best when fresh on remix release,” The Dallas Morning News, 1997. ↩︎

Kommentare

Eine Antwort zu „Michael Jacksons HIStory“

  1. Guter Artikel denoch möchte ich dazu sagen das ich persönlich also wirklich nur persönlich glaube das Michael nie sex hatte warum glaube ich das hm 1Madonna hat damals persönlich gesagt …. wen ich da ich es jetzt weis das Michael jackson noch nie gebumst hat dann muss ich lachen u 2Michael hatte ein viel höheres ziel u 3hätte er wirklich dann denke u glaube ich hätten die Frauen schon längst alles ausgeplaudert denoch weiß ich das er schon wusste was sex ist u wie es funktioniert bitte versteht mich nicht falsch DANKE